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Sie haben einen Gutschein für eine Zeitreise? Nun, das können wir durchaus bewerkstelligen. Wir schicken Sie in Ihre eigene Zukunft. Sie sind etwa dreißig Jahre alt? Gut, dann machen Sie einen kleinen Zeitsprung nach vorne – in die Jahre, in denen Sie so um die siebzig sind oder älter. Lachen Sie nicht, das ist gar nicht so schwer, wie man vielleicht annehmen könnte. Wenn Sie einverstanden sind, kann es losgehen.
Zuerst bandagieren wir die Gelenke an Beinen und Armen mit Gummibinden, und zwar so, dass Sie um einiges in der Bewegung eingeschränkt sind. Der Versuch, den Gelenkradius voll auszunutzen, ist jetzt mit Schmerzen verbunden – lassen Sie es also. Bewegungen sind möglich, aber eben eingeschränkt. Natürlich können Sie jetzt nur kleine Schritte machen, aber das ist schon richtig so. Diese speziellen Handschuhe aus sehr steifem Material gehören dazu, sie werden Ihnen das absolut authentische Gefühl von altersbedingter Einschränkung der Finger geben während unseres kleinen Abenteuers.
Dieser Kragen soll keine Halsschmerzen verhindern, sondern dafür sorgen, dass Sie den Kopf nur bedingt drehen können. So, passt schon. Jetzt kommen wir zu den Ohren – diese Stöpsel hier filtern Geräusche. Es wird nicht einfach sein, etwas zu hören, wenn es sehr leise ist. Sie werden sich bei Gesprächen schon sehr konzentrieren müssen, um auf dem Laufenden zu bleiben.
Fast fertig, bis auf die Augen. Dafür geben wir Ihnen diese Kontaktlinsen, die alles ein wenig unschärfer machen und vor allem das Nahsehen etwas erschweren. Ausgleichen können Sie das mit dieser Brille, die Sie – je nach Bedarf – ab- und aufsetzen werden. Manchmal reicht es auch, wenn Sie das Gestell auf der Nasenspitze tragen, um darüber hinaussehen zu können. Teure Gleitsichtgläser sind in dreißig oder vierzig Jahren wohl absolute Luxusartikel, wenn die Wirtschaftslage weiter so marode bleibt. Aber schließlich haben Sie ja einen kleinen Abenteuerurlaub gebucht und keine Suite in Abu Dhabi. Sehen Sie also zu, wie Sie zurechtkommen mit diesem Gestell und beklagen Sie sich nicht.
So, jetzt tragen Sie Ihre Abenteuerausrüstung, und vor Ihnen liegt die erste Herausforderung. Ihre Aufgabe lautet: Gehen Sie zu einem großen Supermarkt und kaufen Sie ein, was auf diesem Zettel steht. Eine gute Gelegenheit übrigens, um das Sehen mit der Brille zu üben. Diese praktische Gehhilfe mit zwei Rollen und integriertem Einkaufskorb sollte Ihnen jetzt gute Dienste leisten. Wie? Ja, das ist richtig, das Teil verleiht Ihnen jetzt, da Ihr Bewegungsapparat eingeschränkt ist, eine gewisse Sicherheit. Oh Verzeihung, wir sprechen natürlich gerne etwas lauter. Kann es losgehen? Passen Sie auf dem Parkplatz auf, da achtet man nicht unbedingt auf Senioren mit Gehhilfen. Wir werden Sie begleiten, aber helfen müssen Sie sich schon selbst. Das kleine Abenteuer soll ja so authentisch sein wie möglich, nicht?
Ja, diese Drehkreuze am Eingang sind nicht die beste Idee, das stimmt wohl. Warten Sie einfach, bis Ihnen jemand behilflich ist, das kann aber dauern. Ja, die Kunden fahren mit ihren Einkaufswagen Rallye, das ist wohl so. Wehren Sie sich, indem Sie gegensteuern mit Ihrem zweirädrigen Helfer. Seien Sie froh, dass die gezischelten Kommentare mancher Kunden gar nicht durch die Ohrstöpsel dringen.
Wieso brauchen Sie eigentlich so lange, um eine Packung Rahmsoße zum Anrühren zu kaufen? Ach so, die Augen – stimmt. Fragen Sie einfach einen Angestellten. Wieso sind Sie jetzt schon wieder wütend? Er wollte einfach nicht lauter sprechen – das ist bedauerlich. An die Kaffeegläser können Sie nicht heranreichen mit den Bandagen? Bitten Sie irgendjemanden um Hilfe und schnauzen Sie nicht gleich los. Ja, das hat einige Zeit gedauert bis sich jemand erbarmte, das haben wir auch registriert. Die jungen Leute sind unverschämt, weil sie um Ihren Trolley herumlaufen müssen und Sie so lange am Regal stehen? Nun ja, das ist nur ein weiteres kleines Problem.
Haben Sie alles? Wenn wir ein Zeitlimit gesetzt hätten, sähen Sie aber gar nicht gut aus heute. Für diese acht Artikel haben wir uns fast eine Stunde hier aufgehalten und sind noch nicht einmal an der Kasse – das kommt jetzt. Sie können natürlich nicht so schnell auf das Band auflegen wie sonst, das ist klar. Aber die meisten Kommentare dazu hören Sie ja nicht. Ihre Geldbörse haben wir mit Kleingeld gefüllt, weil das realistischer ist. Scheine kommen kurz vor dem Ersten nicht in vielen Seniorenbörsen vor, außerdem ist es eine weitere Herausforderung.
Drehen Sie doch einmal Ihren Oberkörper in Richtung Schlange hinter Ihnen (Ihren Hals haben wir ja eingeschränkt) und genießen Sie die ungeteilte Aufmerksamkeit, die Sie haben, weil das Kramen in der Börse schon ziemlich lange dauert und Sie schon dreimal nachgefragt haben, wie hoch die Summe ist. Wir haben die interessantesten Aussprüche übrigens für Sie auf Band gespeichert. Als Andenken an das kleine Abenteuer.
Geschafft – wir sind draußen und in Kürze werden Sie Ihre "Ausrüstung" los sein. Meine Güte, Sie sind ja schweißgebadet. War uns auch ein Vergnügen, wir schätzen zufriedene Kunden sehr. Ach, Ihr Großvater hat Ihnen den Gutschein geschenkt, obwohl Sie sich immer davor drücken, ihn beim Einkaufen zu begleiten. Wirklich sehr interessant.
© "Zeitreise gefällig? Wir schicken Sie in Ihre Zukunft": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Mehrere Uhren (Illustration), CC0 (Public Domain Lizenz).
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