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Jetzt ein schnelles Menü in der Mikrowelle warm gemacht, dann eine fünfminütige heiße Dusche, um die Muskulatur zu entspannen. Der PC ist zwar hochgefahren, aber dann doch das Notebook klarmachen, um die wichtigsten Mails zu beantworten. Während das Postfach gesichtet wird, läuft Vivaldi über die Anlage – kann man vom Notebook per Fernbedienung steuern. Eigentlich könnte die Wäsche im Trockner schon fertig sein ... vielleicht wieder mal das Signal überhört.
Das Handy klingelt – leider auch das Festnetztelefon. Das passiert öfter – einer muss warten. In ein Sprachübermittlungsteil wird "Moment mal" gehaucht und den anderen Anruf nimmt man direkt. Der Blick irrt während des Austausches von Belanglosigkeiten immer wieder zum Flachbildschirm, könnte man anschalten – Vivaldi ist abgelaufen in der Zwischenzeit. Also das Telefon auf Station und per Handy den zweiten Anrufer zurückrufen – war wohl eins der Kinder. Kanal wählen – eine dieser Reality-Shows. Trotzdem hingucken und nebenbei über das Abholen des Jungen von der Party verhandeln.
Dann kommt die Nacht. Eine einzige Nacht und alles ist anders. Das Mauerwerk hat Risse, es wird wohl halten, aber es ist kalt. Der Wind ist immer noch stark, niemand wurde verletzt von der Familie, aber die Katze fehlt. "Wird hoffentlich irgendwo untergekrochen sein, schließlich sind Katzen schlaue Tiere." Eine Mathearbeit ist angesagt – aber ob der Unterricht stattfindet, weiß keiner. Radio? Meine Güte, in diesem Haus hat es seit Jahren kein Radio mehr gegeben, und wenn sich eins findet, dann im Keller oder der Garage ... ohne Strom geht es nicht. "Wir haben keine Batterien", das geht an die Adresse des Jüngsten – und überhaupt braucht man dazu ein Radio, das auch mit diesen Dingern läuft. Die Nerven liegen blank – das Badezimmer ist eiskalt und klamm, niemand legt heute Morgen Wert auf Hygiene. Wasser gibt es noch, wenn es auch ziemlich bräunlich und nur aus dem Hahn im Keller kommt.
Ein Eimer wird gefüllt, um das Klo nachzuspülen – vergisst natürlich jeder. Die Große kommt zurück und streicht sich das wirre Haar aus der Stirn, heute hat sie das Badezimmer nicht blockiert, sie ist in ihre Kleider gestiegen und hat sich auf den Weg gemacht, um zu sehen, wie es im Viertel aussieht. Ich konnte nicht gehen, musste Frühstück machen. Ungetoastetes labbriges Weißbrot mit irgendetwas darauf. Eier fallen aus – man kann sie weder kochen noch backen. Dafür meckert zum ersten Mal niemand über die harte Butter – die ist fast flüssig. Wieso wird es in einem ausgeschalteten Kühlschrank so schnell warm?
Das Zeug aus der Truhe muss auf jeden Fall weggeworfen werden, jedenfalls das allermeiste – es ist nicht kalt genug, um es aufzubewahren. Ein oder zwei Tage kann man es aufheben, dann ist Schluss. Würde auch nicht viel nützen – kein Strom für den Herd. Die Große sagt, dass man das Auto nicht benutzen kann, die Straßen sind voll von Schutt. Es hat Tote gegeben, sagt sie. Sie ist blass. Die Schule ist geschlossen, niemand ist dort und die Eingangstür ist herausgerissen worden vom Sturm.
Plötzlich riecht es brenzlig, wir gehen dem Geruch nach. Der Kleine sitzt im Vorgarten und versucht mit Papier und Pappe eine feuchte Bohle anzuzünden. "Ich mach Feuer, damit wir kochen können", sagt er. Wir stehen alle im Kreis um ihn herum und starren auf die schnell verlöschenden Flämmchen. Hier liegen Steinplatten, man könnte eine Art Lagerfeuer machen – aber wie macht man das nun wirklich? Die Nachbarn kommen heraus, sie haben ihren Holzkohlegrill dabei. Gar nicht übel, dieser Gedanke – man muss das Teil draußen anwerfen wegen der Gase. Unter dem Vordach ist ganz schnell eine behelfsmäßige Küche eingerichtet. Der Kleine sieht hoffnungsvoll hinüber, aber ich schüttle den Kopf – wir haben einen Elektrogrill.
Wagen der Stadtverwaltung fahren durch die Straßen – über Lautsprecher wird irgendetwas bekannt gegeben, aber man versteht das kaum, so wie meist. Ein Knall lässt uns zusammenfahren, ein Ziegel ist auf den Gehsteig geknallt. Wahrscheinlich gibt es mehr Schäden am Haus, als wir dachten – deckt die Versicherung das ab? Wahrscheinlich nicht – aber zuerst einmal müssen wir sehen, wie wir die nächsten Tage überstehen. Wasser haben wir, eine Zapfstelle im Keller – aber immerhin. Feuer werden wir auch kriegen irgendwie. Das kann nicht so schwer sein. "Soll ich es googlen?", fragt grinsend der Große. Ich kann darüber nicht lachen, ich denke an die Badewanne und dass man darin sicher die nötigsten Sachen waschen kann ... beim Wasserholen müssen wir eben alle mal ran.
Das Handy bleibt stumm, ebenso wie das Festnetztelefon. Wir haben einen Traum geträumt, aber dann sind wir aufgerüttelt worden und in der Steinzeit erwacht. Für wie lange ist unklar ... vielleicht können wir bald wieder einnicken und unsere trügerische Sicherheit weiterleben. Es konnte doch nicht passieren, nicht hier, nicht uns. Dann weiß ich, dass es keinen Grund gibt, wieso wir verschont bleiben sollten. Überhaupt keinen.
© "Die Nacht nach dem Wirbelsturm: Ohne Strom geht nichts": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt einen Hurrikan über dem Atlantik, Lizenz: Public domain (Quelle: NASA).
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