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Es war der erste Tag an der frischen Luft für Lothar Grassner, der erste etwas wackelige Spaziergang nach vierzehn Tagen. Es hatte ihn böse erwischt gehabt, so richtig mit allen Schikanen. Kopfschmerzen, Schnupfen, Fieber ... die ganze Palette. Grassner war alleinstehend, und er hatte dem zweifelnden Arzt versichert, dass seine Schwester täglich nach ihm sehen würde. Dass Mara weit weg, praktisch am anderen Ende der Republik wohnte und sich nur hin und wieder per E-Mail nach seinem Ergehen erkundigte, behielt er für sich. Er hatte einfach keine Lust, sich stationär aufnehmen zu lassen. Vor Krankenhäusern graute es ihm.
Dann war es für einige Tage schlimm geworden, er hatte recht und schlecht die Medikamente eingenommen und Mineralwasser getrunken. Appetit hatte er sowieso keinen gehabt. Aber es war vorbeigegangen und er konnte dem Arzt telefonisch einen weiteren Hausbesuch ausreden. Grassner hatte sich einen Termin geben lassen, und vielleicht würde er sogar hingehen.
Grassner hätte nie geglaubt, dass ihm das Viertel fehlen würde ... er hatte es ganz bestimmt nicht so mit Gesellschaft, aber jetzt genoss er das milde Herbstlicht und die erdigen Farben der Bäume. Er fühlte sich sogar angenehm berührt vom Anblick der Menschen, die er sah. Normalerweise ging Grassner allzu engen nachbarlichen Kontakten aus dem Weg. Knappe, wenn auch freundliche Grüße hielt er für völlig ausreichend und war immer gut damit gefahren. Er war Einzelgänger, das war er schon immer gewesen. Nicht, dass er Menschen nicht mochte – er fand sie nur nicht besonders interessant. Nach so vielen Jahren, die er in diesem Stadtviertel verbracht hatte, war es allerdings unvermeidlich gewesen, dass ihm die Leute hier vertraut wurden. Und da er sie niemals aus der Nähe wahrnahm, sondern nur als unbeteiligter Betrachter, verstand er erstaunlich viel von dem, was er sah. Und deshalb merkte Grassner sofort, dass irgendetwas nicht so recht stimmte. Etwas war anders als es sein sollte, nur um einen blassen Ton anders – aber spürbar.
Zu Hause überlegte er, ob es vielleicht an der gerade überstandenen Krankheit lag, dass er dieses flaue und unbestimmt ängstliche Gefühl bei seinem Spaziergang gehabt hatte. Aber er nahm sich für seine nächste Runde vor, sehr aufmerksam zu sein. Da Grassner außer seinem Einzelgängertum auch einen guten Teil Forscherinstinkt besaß, war er tags darauf wieder unterwegs. Und als er diesen sehr ausgedehnten Spaziergang beendet hatte, gab es eine Menge Fragen.
Vor dem Haus der Eheleute Richter gingen merkwürdige Leute auf und ab – Typen in dunkler Kleidung, die ab und an aus den Augenwinkeln heraus die Fassade und die Vordertür musterten. Es waren Kerle, wie man sie als Ganoven und Einbrecher in diesen schlecht gemachten pseudorealen Filmchen sah. Es sah eigenartig inszeniert aus, vor allem deshalb, weil diese Gestalten nur vor Richters Anwesen zu sehen waren und nirgends sonst im Viertel. Freilich, gerade Alfons Richter war von einer schon fast lächerlichen Angst vor Einbrechern besessen – es war bekannt, dass er vierteljährlich sämtliche Schlösser auswechselte und dass alle Fenster verriegelbar waren. Man machte sich ein wenig lustig darüber, denn Reichtümer waren in dem Häuschen wohl kaum zu erwarten.
Jetzt sah es sonderbarerweise so aus, als wären die Befürchtungen der Richters gar nicht so abwegig. Aber etwas passte nicht – es sah irgendwie aus, als hätte man diese finsteren Typen, die bei dem Richterschen Eckhaus Patrouille liefen, geradezu bestellt. Grassner dachte darüber nach, ob sich irgendjemand einen Scherz erlaubte auf Kosten des guten Alfons – denn der nervte seine Nachbarn mit seiner Einbrecherphobie seit Jahren. Aber wer würde so etwas inszenieren wollen – ihm fiel niemand ein.
Dann war da noch dieser Geruch bei der alten Frau Tomasik gewesen. Ihr Vorgarten roch ziemlich durchdringend nach ... nun ja, nach Fäkalien. Er hatte sich bei seinen Spaziergängen hier und da über die keifende Alte amüsiert, die sämtliche Strafen des Himmels auf die Katzen des Viertels herabrief, weil diese ihre sorgsam gepflegten Blumenbeete vollschissen. Frau Tomasik war der Schrecken ihrer Nachbarn, denn sie zögerte durchaus nicht, die Vorübergehenden anzuhalten und sie wegen ihrer Katzen anzupöbeln – ob die Leute nun welche besaßen oder nicht.
Aber jetzt schien es, als hätte die Alte tatsächlich recht, nur fragte Grassner sich, wieso dieser Geruch wie eine Glocke über dem Vorgärtchen der Tomasik stand und sich scheinbar dort konzentriert hatte. Sobald man nämlich an den sieben oder acht Metern Jägerzaun vorbei war, duftete es nur noch nach Heckenrosen und natürlich Auspuffgasen. Genauso wie vor dem Zäunchen. Es war ein Rätsel, denn tatsächlich konnte man sich kaum vorstellen, dass alle Katzen im Umkreis einen Rachefeldzug gegen ihre alte Widersacherin führten und ihre Häufchen nur noch in den Tomasikschen Tulpen absetzten. Ob vielleicht ein Katzenfreund die Sache leid war und eine Fuhre von dem übel riechenden Zeug des Nachts über den adretten Jägerzaun gekippt hatte ... Grassner zweifelte daran.
Normalerweise war die Welt für Lothar Grassner etwas, das er als gegeben akzeptierte. Ebenso nahm er seine Mitmenschen hin, ohne sich allzu sehr mit ihnen zu befassen – er nahm die Dinge hin, wie sie sich zeigten. Urteile fällte er nie, das überließ er anderen. Es lag ihm nicht, die Ansichten und Äußerungen anderer Leute zu bewerten. Seine Einstellung war die der Akzeptanz, ohne auf eine bestimmte Sicht der Dinge festgelegt zu sein. Gut möglich, dass er gerade deswegen der Einzige zu sein schien, dem diese Unregelmäßigkeiten auffielen. Die Kerle vor dem Haus der Richters fielen niemandem auf, wie Grassner glaubte. Er hatte die Vorübergehenden beobachtet ... sie schenkten den eigentlich recht auffälligen Fremden keinen Blick. Das war eigentlich nicht die Art der Leute im Viertel, ganz und gar nicht. Er scheute sich, jemanden darauf anzusprechen, deshalb wusste er auch nicht, wieso scheinbar niemand den Geruch des eingezäunten Katzenklos bemerkte. Kein einziger Passant schaute hin oder rümpfte die Nase, obwohl der Gestank einem mittlerweile die Tränen in die Augen trieb.
Dass sich bei Herrn Semmet im Obergeschoss die sonderbaren, recht zahlreichen Ärzte, die noch Hausbesuche machten, die Klinke in die Hand gaben, war da nur eine weitere Sache. Natürlich konnte jeder krank werden, das war eine Sache, die einfach passierte. Gerade bei Semmet, der kein anderes Gesprächsthema kannte als seine Leiden und Gebrechen. Mit den detailgenauen Schilderungen unterhielt der Mann die Kundschaft in der Bäckerei, die Wartenden an der Haltestelle und jeden, der den Fehler machte, sich auf ein Gespräch einzulassen. Zwar machte Herr Semmet einen durchaus gesunden und sogar recht sportlichen Eindruck, aber man konnte nie wissen ... Grassner hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Diese Sache beschäftigte ihn auch nur am Rande, denn während der letzten Spaziergänge hatte er weitaus sonderbare Dinge gesehen.
Da war der Postbote, der seit Jahren die Post im Viertel austrug und der immer mit wahrer Leidenschaft über die "jungen Leute" schimpfte. Er ging davon aus, dass es in der jungen Generation weder Respekt noch sonst irgendeine soziale Regung gab und dass die heutige Jugend insgesamt vorbeugend in Haft genommen werden sollte. Soweit Grassner wusste, war der Mann Witwer und kinderlos, aber überaus schlecht auf alles zu sprechen, was unter einundzwanzig war. Und die letzten Male, als er den Briefträger gesehen hatte, war dieser in unangenehmer Gesellschaft. Einmal hüpfte eine Gruppe Kinder neben ihm her und hänselten ihn wegen seiner prachtvoll glänzenden Glatze – ein anderes Mal standen einige Jugendliche mit in den Hosentaschen steckenden Händen auf dem Bürgersteig und blockierten dem Mann mit der Postkarre den Durchgang. Als der sich nun, laut schimpfend, mit seinem Wagen den Weg bahnte, traten die Jungs nach den Rädern des Schiebewägelchens und spuckten aus.
Es wunderte Grassner nicht wirklich, dass niemand eingriff oder sich einmischte. Die Leute gingen an dem Postboten und den Teenagern vorbei, als wäre nichts. Es sah tatsächlich so aus, als würde niemand wirklich bemerken, was da vor sich ging. Grassner sah aufmerksam hin, aber ein Eingreifen war nicht wirklich nötig – außer der Würde des Mannes wurde nie etwas wirklich beschädigt oder verletzt. Denn mittlerweile sah man den Postmann nie ohne feixende oder leicht rempelnde Trabanten in jugendlichem Alter, die ihn durch ganze Straßenzüge verfolgten.
Aber war das immer so gewesen? Lothar Grassner dachte darüber nach – und er kam zu dem Schluss, dass er es nicht mehr genau wusste. Bis er auf Frau Graffmann aufmerksam wurde. Die nämlich wohnte eine Straße weiter und unterhielt auf ihre Weise auch ihre Mitmenschen, wenn auch auf andere Art als zum Beispiel Herr Semmet oder der Postbote. Sie verteilte großmütig Ratschläge, ob sie nun gefragt wurde oder nicht, aber sie tat es auf eine recht angenehme, humorvolle Weise. Bei ihr war Dauerregen gut für das Obst, Kinder waren liebe und unschuldige Geschöpfe, Nachbarn die besten Menschen unter einer grundsätzlich guten und netten Bevölkerung, Kriminalität nur etwas, das in Filmen vorkam und überhaupt folgte auf schlechtes Wetter ganz schnell Sonnenschein. Sie leugnete alles Schlechte, selbst wenn es ihr auf die Zehen trat. Für fehlgeleitete Menschen fühlte sie vor allem Mitleid und hatte tausend Entschuldigungen parat. Frau Graffmann hielt auch ein gänzlich leeres Glas nur für eines, das kurz vor der üppigen Füllung stand.
Und Grassner sah mit Erstaunen, dass immer jemand Hilfe anbot. Ein Nachbar mähte den Rasen, wenn Frau Graffmann wieder vom Rheuma geplagt wurde, worüber sie sich selber lustig machte – vorm Supermarkt fand sich immer ein Jugendlicher, der ihr freiwillig half, die Tüten im Auto zu verstauen, und da sie nicht mehr die Jüngste und ihr Mann gehbehindert war, wurde im Winter ihr Stück von Bürgersteig stillschweigend vom Schnee befreit, "wenn man ja sowieso gerade dabei war".
Frau Graffmann, so dachte Lothar Grassner, lebte in ihrer eigenen hellen Welt, in der es nur Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gab. Dieser Gedanke blieb hinter der Stirn stehen, verflüchtigte sich nicht und war auf einmal mehr als das. Er war die Lösung, auch wenn das vielleicht unglaublich schien. Aber Grassners eigene Art, die Dinge, die ihn umgaben, eher leidenschaftslos als emotional zu sehen, und die Unvoreingenommenheit, die seinem Wesen entsprach, machte es für ihn sichtbar.
Natürlich hatte das Ehepaar Richter die zwielichtigen Gestalten selber bestellt. Sie waren die Realität, die sich die beiden geschaffen hatten. Sie lebten in der Welt, in der sie leben wollten. Und die war voll von Einbrechern, die es auf die Ersparnisse der Leute abgesehen hatten. Oder den Fernseher, das gute Porzellan und die Unversehrtheit des Eigentums. Semmet lebte in einem Universum der Krankheiten, es gab keine Gesundheit, die es ermöglichte, das Leben (vor dem er Angst hatte) zu genießen. Was den Postboten betraf – er war wahrscheinlich glücklicher mit den Rotznasen, die ihn schikanierten als ohne sie, denn sie bestätigten seinen Hass auf alles Junge und Unverbrauchte – auf alles, was nicht gebändigt werden konnte. Alle lebten in der Welt, die sie sich geschaffen hatten – und keiner merkte das. Außer vielleicht Frau Graffmann, deren Standardspruch ja lautete: "Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus."
Diese New-Age-Typen hatte Grassner immer mit mildem Erstaunen betrachtet, unter anderem predigten sie so etwas Ähnliches. Und in der Bibel gab es auch einige Stellen, die man so interpretieren konnte. Tatsächlich hatten alle recht. Und so existierten unendlich viele Welten nebeneinander, berührten sich manchmal, blieben aber dennoch solitär. Grassner wusste, wieso er es sehen konnte – es lag an seiner Art des Wahrnehmens, seiner fast völlig objektiven Wahrnehmung. Und schließlich gingen ihm die Möglichkeiten auf. Er musste sich nur für ein Leben entscheiden – eines von unzählig vielen, die er sich maßschneidern konnte. Diese Gedanken machten ihn schwindlig, er würde sich erforschen müssen, um zu wissen, was er sich alles wünschen sollte ... würde sich festlegen müssen auf den bewussten Schöpfungsakt.
Während diese Konsequenz zur Gewissheit wurde, trat Grassner wieder einen Schritt zurück, um besser sehen zu können. Und dieser Kelch ging an ihm vorüber, wie er sich sagte. Es würde ihm genügen, die Universen zu betrachten, die ihn umgaben, von der Warte eines Menschen aus, dem nichts kostbarer schien als der ungetrübte Blick auf das Ganze. Lothar Grassner wies das trügerische Paradies zurück, weil es ihm der Hölle zu nahe schien.
© "Grassner und der Schöpfungsakt – Die Hölle, das ist das Paradies in Häufung": Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Bildnachweis: (Verwendung: gemeinfrei), oben: Yggdrasil, der Weltenbaum. Eine Illustration von Oluf Olufsen Bagge, 1847; unten: Kenotaph; die Kugel symbolisiert das Universum. Ein Entwurf des Architekten Étienne-Louis Boullée, 1784.
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