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Glauben Sie an Gespenster oder Geister? Ich eigentlich schon, und manchmal ist mir danach, sie zu betrachten. Wenn man lange in einer Stadt gelebt hat, vielleicht sogar von Kindheit an, dann ist die Geisterseherei einfach – man sucht sie da, wo sie sich herumtreiben.
Bei mir ist es so, dass ich zum Beispiel eine bestimmte Straße entlangzuschlendern brauche, um sie anzulocken. Hier zum Beispiel, wo sich zwar sehr vieles verändert hat – die Linde, die auf dieser Gehwegspitze stand, wurde längst gefällt – die Basis aber immer noch erkennbar ist. Die besagte Zunge teilte eine Straße in zwei, und es gab diesen großen Baum und ebenso eine Litfaßsäule. So um die zehn Jahre herum war ich damals gewesen, und ich hatte meine Leidenschaft für Rollschuhe entdeckt. Wie von weither klingt das Rattern der Rollen auf dem Asphalt ... und tatsächlich fahren einige Kinder Achten um die Linde und die Litfaßsäule. Sie sind durchsichtig, geisterhaft eben. Sie gehören in eine andere Zeit. Ich bin mittendrin, ein dünnes Gör mit schief sitzender Brille und waghalsigen Fahrmanövern.
Dieser Platz war wichtig gewesen damals, er war in gewisser Weise das Zentrum unserer sozialen Beziehungen. Was immer unternommen wurde, hier traf man sich und plante das Weitere. Einige Straßen weiter treiben sich andere Geister herum. Wo heute eine dieser Wohnmaschinen steht, mit Steuerberaterpraxis im Erdgeschoss (kann auch ein Gerichtsvollzieher sein), war einmal die erste Diskothek der Stadt. Hochmodern und gelackt brauchte sie nur kurze Zeit, um zum angesagten Tanzschuppen zu werden – es gab schließlich erst mal keinen anderen.
Und tatsächlich stehen die Gespenster lässig auf dem Gehweg vor dem Eingang, sie tragen Schlaghosen und Schlapphüte, mittellange bis sehr lange Mähnen und bunte Hemden. Von drinnen klingt sowas wie Jimi Hendrix heraus, immer wenn die Türe aufgeht. Da steht, verkrampft gestylt und schrecklich unbeschwert, die Mädchenclique meiner Teenagerzeit. Zu der mit den glatten Haaren würde ich gerne gehen und ihr sagen, dass sie eigentlich ihre Zeit verschwendet – aber mit diesen Schemen kann man nicht streiten, und sie, also ich, hätte es sowieso nicht geglaubt.
Die Straßen der Stadt wimmeln von Geistern, es sind auch Hunde dabei ... Kumpels, die diese Wege lange Zeit mitgegangen sind. Andere Fußgänger sehen vielleicht auch, was ich sehe, nur dass es andere Manifestationen der Vergangenheit sind. Sollte man sie austreiben oder ihnen freundlich zunicken? Wahrscheinlich sind sie völlig harmlos – aber für manchen vielleicht lästig. Oder unsichtbar – nicht alle Leute fühlen sich erinnert – andere, so wie ich, sehen ein Haus oder einen Laden und machen eine Art Minizeitreise.
Die Ecke mit der Linde gibt es nicht mehr, so wie sie damals gewesen ist, man erkennt sie eigentlich nicht wieder. Da wo früher diese große, überdachte Bushaltestelle mit den Holzbänken war, gibt es jetzt eine verdreckte Grünanlage. Aber die Kinder mit den Rollschuhen werden wohl immer dort sein, lachend fahren sie ihre Achten um eine gespenstische Linde herum. Jedenfalls solange sich jemand an sie erinnert. Das kann auch die Frau sein, die immer am Fenster war – die Ellbogen auf ein Kissen gestützt – und mit Missbilligung im Blick das Treiben auf der Straße beobachtete.
Wenn sie vergessen werden, machen sie Platz für andere Geister ... solchen mit verkehrt herum aufgesetzten Baseballmützen und viel zu großen Hosen, die älteren Herrschaften mit gemächlichem Gang erscheinen, wenn sie die Straße entlanggehen. In zwanzig oder dreißig Jahren vielleicht.
© Text und Foto zu "Gespenster sehen: Geister in der Stadt": Winfried Brumma (Pressenet), 2013.
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