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Die Geschichte von Pandora – man kennt das ja. Aber es könnte sein, dass sie nicht richtig überliefert worden ist. Denn es waren wahrscheinlich nur zwei Dinge in dieser so genannten Büchse (eigentlich war es ja ein Krug ursprünglich), denn mehr hat es nicht gebraucht, um dem aufstrebenden Menschengeschlecht so ziemlich alles zu vermiesen.
Dass die Hoffnung am Krugboden festklebte und erst viel später als Gnadenakt in die Welt entlassen wurde, wissen wir. Aber das Übel, das als erstes und einziges in die Welt der Menschen kam, war wohl die Angst gewesen. Die allein sorgt für jedes andere Ungemach, das man sich denken kann, da wahrscheinlich alles, was Menschen bedrückt, in ihr gründet – in der Angst.
Ob wir damit geboren werden, ist fraglich – allerdings ist ein gewisses Maß davon für unser Überleben notwendig, denn ohne dieses Gefühl hätten unsere Ahnen wohl kaum Vorkehrungen gegen Überfälle von so etwas wie Säbelzahntigern oder Höhlenbären getroffen, sondern die Viecher am Schwanz gezogen – und wir könnten uns heute aus Gründen der vorgeschichtlichen Entvölkerung kaum Gedanken darüber machen.
Aber gleichgültig, wie man es sieht, die Angst begleitet uns vom ersten Atemzug an. Ein wohlbehütetes Kind wird nicht allzu viele Ängste haben, aber Albträume sorgen in diesem Fall für ein effizientes Training – alle Kinder kennen das.
Mit sich entwickelnder Sozialisierung finden Ängste mehr Nahrung – das dunkle Zimmer und der Angstschub beim Schließen der Tür bleibt nicht der einzige Faktor – das komplizierte Miteinander sorgt für mehr. Angst vor Strafe oder Missbilligung seitens der Eltern tritt an die Stelle der unsichtbaren Monster. Dann folgen die vielen kleinen Zivilisationsängstlichkeiten, die wir uns fleißig und erfolgreich antrainiert haben. Der Renner scheint immer noch die Angst vor Liebesentzug zu sein – die bringt Kinder zu Sachen, die sie normalerweise nicht machen würden. Bewusstes Lernen ist zum Beispiel so etwas, irgendjemand hat versäumt diese Sache als das interessante Abenteuer, die sie ja ist, zu outen – und so wurde sie zu einer Zwangssache.
Etwas später kommt die Angst, der Norm nicht zu entsprechen – und Kinder, die vor der Pubertät stehen, lieben nun mal Normen. Nicht die richtige Frisur, die richtigen Klamotten oder das iPad, nicht den richtigen Körper und überhaupt nicht die richtige Existenz zu haben, um in der angesagten Clique aufgenommen zu sein ... das stößt einen in die Wahrnehmungsleere und somit aus dem Leben. Wobei wir wieder bei der frühkindlichen Verlassensangst wären. Und während die Teenies sich noch mit dem ständigen Problem ihres Stylings befassen, lauert dann auch schon die Angst vor der Prüfung – dem Sitzenbleiben – dem Stress mit den Eltern – und dummerweise auch schon so etwas wie Zukunftsangst. Da spielen Eltern allerdings eine sehr große Rolle. Sie üben sich im Wahrsagen und prophezeien ihren Sprösslingen bei jeder Zeugnisabgabe eine interessante Zukunft, die meist etwas mit Hartz IV, Gefängnis oder Obdachlosigkeit zu tun hat.
Es potenziert sich mit der Zeit – alle schüren unerbittlich Ängste – man selber arbeitet eifrig mit. Dieses Gefühl verlässt die allermeisten nicht mehr und es kommen immer mehr hinzu: Angst vor Kündigung, vor Krankheit, Verlust des Erarbeiteten und so weiter und so fort. Dabei ist man die alten Ängste noch längst nicht losgeworden – noch immer graust es einen vor dem Alleinsein oder davor, vor der strengen Diktatur der Norm nicht zu bestehen. Aufzufallen, weil man nicht genau dies oder jenes hat ... vielleicht an den Regeln des sozialen Klimas, in dem man lebt, zu verzweifeln. Aggressionen gegen die Nachbarn gründen immer in Angst, so wie überhaupt jede Aggression. Wer da sagt, dass Gewalt etwas mit Machtgefühl zu tun hat, der sollte sich überlegen, wieso nach Macht gestrebt wird.
Dem Mächtigen passiert so leicht nichts, oder? Also ist die Angst auch hier der Faktor. Angst vor dem Unbekannten kann das Leben retten – jedenfalls wenn man in der Wildnis lebt. Wenn diese Angst aber dazu führt, dass man den Nachbarn mobbt, weil er den Gartenzaun in einer für die Siedlung unüblichen Farbe gestrichen hat, dann ist klar, dass da irgendetwas schiefläuft. Dann könnte man noch die ganzen phobischen Ängste hinzuzählen ... Angst vor der Haustürklingel, vor dem Telefon, vor Spinnen, Hunden und was dieser Dinge mehr sind – und käme dann zu dem Schluss, dass nichts unser Leben so sehr prägt wie die Angst. Und dass sie sogar instrumentalisiert werden kann in einer an und für sich ängstlichen Gesellschaft – dass man mit ihr Menschen ebenso gut steuern kann, als hätte man einen Chip in ihr zentrales Nervensystem gepflanzt.
Tatsächlich – Pandora hat nur die Angst freigelassen ... und zu unserem Glück die Hoffnung, die so ziemlich das beste Gegenmittel zu sein scheint.
© Textbeitrag "Pandoras Krug war kaum befüllt": Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Das Bild "Die Büchse der Pandora" zeigt einen Kupferstich von Jacques Joseph Coiny, Lizenz: gemeinfrei.
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