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Mit Karin Lassen begrüßt der pinguletta Verlag die nächste Schriftstellerin in ihrer Autoren-Familie: "Sei tapfer im Leben!" ist der erste historische Roman im Verlagsprogramm, mit dem zugleich die neue Romanreihe "Die Spuren der Kriegskinder" ins Leben gerufen wird. Für die Autorin ist es ihr erstes belletristisches Werk, das sie hervorragend recherchiert und in beeindruckender Weise verfasst hat.
Es ist der 11. Mai 2014 – der 75. Geburtstag von Ilse Oehler. Ein gemütliches Essen soll es werden in einem schönen Lokal, ein harmonischer Abend gemeinsam mit Tochter Birgit und Schwiegersohn Markus. Doch der Abend endet jäh; mehr noch, er ist der traurige Beginn einer Reihe von fatalen Missverständnissen, schonungslosen Anschuldigungen, schweren Vorwürfen und kaltem Schweigen. Und mit tragischem Ende.
Perspektivwechsel: In ausführlichen Rückblenden tauchen wir ein in Ilses bewegtes Leben. Geboren wird sie 1939 als einzige Tochter ihrer Eltern Hedwig und Wilhelm Oehler in Ludwigshafen/Rhein. Keine Zeit für Idylle – es herrscht Krieg: Die ersten Lebensjahre der Familie sind geprägt von wiederkehrendem Fliegeralarm, Bombenangriffen und ängstlichen Nächten im Bunker. Ilses Eltern, stets pflicht- und traditionsbewusst, sprach- und machtlos gegenüber den Schrecken des Krieges, flüchten sich in eisiges Schweigen und hüllen auch ihre Tochter darin ein.
Ein großer historischer Roman, der die Auswirkungen der chaotischen Kriegsjahre, die Atmosphäre von Trümmerzeit und Wirtschaftswunder im Leben einer jungen Frau Revue passieren lässt. Im Hintergrund spielen immer auch Ereignisse aus der Region Ludwigshafen und Mannheim eine Rolle. Ein Versuch, das Auf und Ab eines ganzen Lebens zu ergründen, Unaufgeklärtes zu verstehen.
Was am Schluss bleibt, ist die traurige Bilanz einer Generation von Kriegskindern, die nicht gelernt hat, mit ihren Fragen und Ängsten umzugehen. Um die sich niemand kümmern konnte. Oder die das auch gar nicht eingefordert haben. Weil man gar nicht wusste, wie tief die Wunden verletzen würden: Wunden, die nie wieder verheilen. Der Roman endet in einem Appell – für ein Aufarbeiten, für das Gespräch, für ein Miteinander, für gegenseitiges Verständnis.
Unsere Leseempfehlung: (Werbung) Lesen Sie die broschierte Buchausgabe von "Die Spuren der Kriegskinder: Sei tapfer im Leben!". Sie umfasst 408 Seiten und wurde unter der ISBN 978-3948063221 Anfang Dezember 2021 vom pinguletta Verlag herausgegeben. Der historische Roman von Karin Lassen ist auch als E-Book im Online-Buchhandel erhältlich.
Auch wenn Hedwigs erster Impuls die Flucht war, musste sie der besonneneren Schwägerin zustimmen. Es hieß, man habe ab dem Alarm fünf bis zehn Minuten Zeit. Sollten tatsächlich Bomben fallen, dann befänden sie sich immer noch außerhalb eines Schutzraumes, aber bereits innerhalb der Häuserzeilen. Und die lagen deutlich näher am Fabrikgelände der Anilin, einem, wie Wilhelm kürzlich erklärt hatte, möglichen Angriffsziel. Hedwig war dennoch unschlüssig. Sollten sie wirklich bleiben? Mittlerweile herrschte Totenstille. Die Sirenen waren verstummt, die zuvor sich noch sanft wiegenden Baumkronen schienen erstarrt. Kein Vogelgezwitscher, Bienensummen, Wellengeplätscher oder Flügelschlagen war mehr zu vernehmen. Ilses Geschrei und Dorotheas Wimmern waren angespanntem Schweigen gewichen. Für einen Moment schien Hedwig Zeit und Raum zu vergessen.
In die Stille hinein schlich sich ein entferntes, gleichförmig anschwellendes Brummen, ähnlich dem sanften, langgezogenen Ton einer tiefen Cello-Saite.
Ein C? Ein tiefes C? War das möglich?, dachte Hedwig.
"Hörst du das?", wisperte Frieda. "Klingt wie ein Bienenvolk."
"Müsste man nicht allmählich Flakschüsse hören?", fragte Hedwig nach kurzer Pause und schüttelte ihre irrationalen Überlegungen hinsichtlich der Tonlage ab.
"Ich glaube, die fliegen zu hoch für die Geschütze", erwiderte Frieda in das immer deutlichere Summen hinein, das nun eher einem Hornissen- denn einem Bienenschwarm glich. "Schau mal, da hinten sind sie. Lauter schwarze Punkte in Reih und Glied."
"Ich sehe sie! Meine Güte, die ziehen jetzt weiter runter. Erkennst du das auch?"
Frieda folgte Hedwigs Blick und beobachtete ebenfalls die Formation der sich von Westen nähernden, feindlichen Flugzeuge. Murmelnd zählte sie zwanzig Stück, es konnten sogar einige mehr sein. Ganz eindeutig ließ sich das nicht feststellen. "Stimmt. Aber die kommen nicht auf uns zu. Ich glaube, sie fliegen links an uns vorbei."
Hedwig verfolgte die Flugbahn, angespannt und furchtsam. Der sich zunächst kontinuierlich steigernde Summton hatte seinen Zenit erreicht und schwoll nun wieder ab. "Die halten auf das Werk Oppau zu!"
Sekunden später hörten sie einzelne entfernte Detonationen. Die Bomber hatten sich ihrer unheilvollen Fracht entledigt, erneut nach Westen beigedreht und waren ebenso schnell verschwunden wie sie gekommen waren.
Schreckgeweitete Kinderaugen in kreidebleichen Gesichtern suchten schweigend die Blicke ihrer Mütter. ...
Mühsam kämpfte sich Ilse die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Sechzehn Stufen, unterbrochen durch einen Treppenabsatz, auf dem sie, schwer atmend an die Wand gelehnt, eine kurze Verschnaufpause einlegte. Beine und Rücken schmerzten unerträglich. Wann hatte sie den Weg zuletzt ohne Pause geschafft? Widerwillig wischte sie diesen Gedanken beiseite und plagte sich die letzten Schritte bis zur Wohnungstür, den Schlüssel rechts in der zitternden Hand, die Taschenlampe griffbereit in der Jackentasche links. Geschafft. Der neue Schlüssel glitt leicht ins Schloss. Anders als der alte, da hatte sie meist mehrere Versuche benötigt, bis er exakt im Hohlraum saß. Sie öffnete sachte, zog den Schlüssel heraus und leuchtete mit der Taschenlampe in den Türspalt. Erleichtert stellte sie fest, dass niemand während ihrer Abwesenheit die Wohnung betreten hatte. Die leere PET-Flasche, auf die die Wohnungstür nach geschätzten zwanzig Zentimetern traf, stand unversehrt an ihrem Platz. Ilse schob die Tür weiter auf, um die Wohnung betreten zu können, und die Flasche fiel knisternd um. Sie würde sie nachher wieder aufstellen.
Sie verschloss die Tür von innen, stützte sich mit der linken Hand an der Wand ab und ging die wenigen Schritte im Schein der Taschenlampe den dunklen Flur entlang ins Wohnzimmer. Die Flurbeleuchtung war seit Langem defekt. Sie konnte die Birne der Deckenlampe nicht wechseln, dazu müsste sie auf eine Leiter steigen. Ausgeschlossen. Aber sie hatte vorgesorgt. Auf der kleinen Ablage neben der Eingangstür standen in gerader Linie aufgereiht drei funktionsfähige Taschenlampen. Eine vierte befand sich im Weidenregal im Schlafzimmer, auf der anderen Seite des Flurs, am Kopfende ihres Bettes. Genau neben der Leselampe und Birgits Kinderbild in seinem dunkelbraunen Standrahmen. Im Wohnzimmer, links neben ihrer Sitzkuhle, die sich im Lauf der Jahre auf dem ehemals dunkelgrünen Zweisitzer-Sofa gebildet hatte, lagen in einer Olivenholzschale, dem Mitbringsel eines Familienurlaubs in Nordspanien in den frühen Siebzigern, zwei weitere Taschenlampen sowie eine Schachtel Ersatzbatterien parat. Die Lampe, die ihr gerade den Weg leuchtete, würde sie nachher, wenn sie zu Bett ging, an die Klinke der Wohnungstür hängen. Dann hatte sie sie griffbereit, sobald sie das Haus verließ.
Im Wohnzimmer angekommen, tastete sie nach dem Lichtschalter. Die Lampe mit dem Korbschirm verbreitete sogleich ein warmes, gedämpftes Licht. Die zartduftenden Blümchen legte sie auf den niedrigen Tisch. Sie musste darüber nachdenken, wie sie sie am besten versorgte. Die Vasen warteten seit Jahren unbenutzt und fast vergessen in dem zierlichen Schrank im Schlafzimmer, ihrem ersten Einrichtungsstück, das sie sich 1961 gekauft hatte, bald nach der Trennung von ihrem ersten Ehemann Fred. Ihre Eltern hatten ihr das nötige Geld geliehen. Das dazu passende Regal hatte sie Birgit geschenkt, als die 1989 von daheim auszog.
Sie überlegte einen Augenblick. Ausgeschlossen, sie konnte keine Vase hervorholen. Vor der Schranktür lagerten Zeitungen, die sie fürs Altpapier gerichtet hatte. Die Container waren ja immer voll, sodass der Stapel mittlerweile ziemlich angewachsen war. Sie würde ihn heute Abend nicht mehr zur Seite schieben. Vielleicht fand sie ein anderes geeignetes Behältnis. Andernfalls könnte sie den Strauß am nächsten Tag den beiden jungen Inhaberinnen des Kosmetikstudios im Erdgeschoss schenken.
Ihre Tochter schien nicht zu wissen, dass die Vasen nicht griffbereit waren. Dann war sie wohl wirklich nicht in ihrer Wohnung gewesen. Aber wer hatte die Münzen ausgelegt? Oder wollte Birgit von dem heimlichen Besuch ablenken und hatte die Blumen gekauft, obwohl sie wusste, dass sie nicht an die Vasen herankam? Nein, das traute sie ihr nicht zu.
Langsam entledigte sie sich ihrer Kleidung. Den Blazer hängte sie auf einen Bügel an den Haken an der Wohnzimmertür, die bequeme Hose mit dem Zugbund und dem praktischen Aufhänger kam direkt darunter, der Rest wanderte auf das Sofa und gesellte sich dort zu anderen achtlos abgelegten Dingen. Eine Einkaufstasche mit defektem Reißverschluss, ein Wolltuch, die blaue Handtasche mit den bunten Bordüren, die pfirsichfarbene Bluse aus Mikrofasergewebe, die man nie bügeln musste, ein paar Zeitschriften, eine leere Medikamentenpackung. Sie nahm sich vor, etwas aufzuräumen, bevor sie den Untersuchungstermin im Krankenhaus wahrnahm. Sie versprach sich zwar von dem Aufenthalt dort keine echte Hilfe, die Prognose des Arztes ließ in dieser Hinsicht kaum Zweifel zu. Vielleicht könnte man wenigstens die Schmerzen lindern, die sie seit Monaten quälten. Sie wusste, dass sie Birgit gegenüber nicht ehrlich war, obwohl sie es ihr stets versprochen hatte. Doch das schlechte Gewissen wischte sie schnell beiseite. Es war ihr Leben, sie duldete keine Einmischung.
Niemals mehr würde sie zulassen, auf andere angewiesen zu sein. Niemals mehr würde sie erlauben, dass andere über ihr Wohl bestimmten. Niemals mehr.
Fröstelnd kuschelte sie sich in den warmen Schlafanzug, den sie vom Haken an der Badtür gegenüber dem Eingang abgenommen und sich auf dem Weg durch den Flur bereits über den Arm gelegt hatte. Sie hoffte, schnell müde zu werden, dann könnte sie schlafen gehen. Im Bett liegend fühlte sie sich am wohlsten. Jedoch nur, wenn sie ihre Gedanken abschalten konnte.
Sie zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und drehte den losen Verschluss der kleinen Weinbrandflasche auf. Zwei oder drei Schlucke, dann wäre sie leer. Ilse würde sie später mit ins Schlafzimmer nehmen und in die Reihe der übrigen leeren Flaschen stellen. Vor dem Zeitungsstapel am Schrank warteten sie darauf, zum Glascontainer gebracht zu werden. Die Großen hinten, die Kleinen fein säuberlich davor.
Ilse hatte sich sehr auf den Abend mit Tochter und Schwiegersohn gefreut. Sie sah die beiden viel zu selten. Sie wusste, es lag nur an ihr. Wie oft hatte Birgit Verabredungen vorgeschlagen. Einen Stadtbummel, einen Theaterbesuch oder einfach eine Plauderei im Café. Im Lauf der Zeit wurden die Einladungen zu gemeinsamen Unternehmungen seltener, da sie vermutlich ahnte, dass Ilse ohnehin ablehnen würde. Sie hätte Birgit natürlich erklären können, dass ihre Schmerzen sie im Haus hielten, aber dann wäre sie ihrer Sorge und den Fragen nicht mehr entkommen. Nein, so schien es besser. Bis heute. Es war ihr nicht gelungen, ihren Zustand vollends zu verbergen. Und prompt musste Birgit sich einmischen, anstatt sie in Ruhe zu lassen. In der Beziehung ähnelte sie ihrer Großmutter, die auch immer alles besser wusste.
Bei dem kurzen Gedanken an ihre eigene Mutter sträubte sich alles in ihr gegen die verhasste Erinnerung. Tränen bahnten sich den Weg, sie suchte in der Handtasche nach einem Taschentuch. Dabei fiel ihr Birgits Geschenk in die Hände. Stirnrunzelnd versuchte sie erneut, die kleinen Buchstaben zu entziffern und griff schließlich zur Leselupe. Cecilia Bartoli. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Der Schuber mit Buch und CD landete auf dem Stapel neben ihr. Ilse schnäuzte sich die Nase, trocknete die Tränen und nahm einen Schluck vom wohltuenden Weinbrand.
Eine Spinne huschte die Wand entlang. Ah, da war sie ja wieder. Sie kannte sie, würde ihr nichts tun, ihrer Gesellschafterin in einsamen Stunden.
Zurückgelehnt folgte Ilse den Bemühungen der Spinne, die konzentriert und emsig ihr Netz ausbesserte, und gab den Kampf gegen die Erinnerung auf. ...
© "Die Spuren der Kriegskinder: Sei tapfer im Leben!": Für das Text- und Bildmaterial zur Buchvorstellung danken wir dem pinguletta Verlag sehr herzlich, 12/2021.
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