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"Wielaus Gedankenreise" ist ein Roman, der existentielle Erfahrungen transportiert: Roland Wielau, der Protagonist, ist operiert worden und verbringt eine Woche im Krankenhaus. Er leidet, weil er sich ängstigt, sich tagsüber wie ein Gefangener fühlt und nachts keinen Schlaf findet. Was ihn stärkt, ist die Liebe seiner Frau. Prägende Erfahrungen seines Lebens steigen aus seiner Erinnerung herauf.
Wielau denkt nach über Sprache, Religion, Gesellschaft, über die Rolle des Zufalls, über Vergänglichkeit und den Tod. In diese Reflexionen mischt sich die Lektüre von Szenen aus "Anna Karenina".
Die Sprache des Autors Franz Josef Schwiete bildet die monotonen Abläufe im Krankenzimmer präzise ab und blüht verschwenderisch auf, wenn sie die reiche Gedanken- und Gefühlswelt des Ich-Erzählers entfaltet. Schwietes Stilmittel sind Rückblenden, innerer Monolog und erlebte Rede.
Unsere Empfehlung für den Roman von Franz Josef Schwiete: Die Taschenbuch-Ausgabe von "Wielaus Gedankenreise" umfasst 166 Seiten und wurde im April 2020 veröffentlicht (ISBN 978-3960040538). Als Herausgeber fungiert der Verlag BookOnDemand vabaduse.
Ich muß wohl eingeschlafen gewesen sein, denn plötzlich stand eine Krankenschwester an meinem Bett; doch wie aus der Ferne hörte ich sie sagen: "Die Thrombosespritze ist an der Reihe!" Im Laufe der Abende mußten beide Oberschenkel herhalten, meistens abwechselnd. Früher hatte ich vor solchen Pieksern Angst gehabt, mindestens Respekt, inzwischen aber verlor ich wegen der Häufigkeit der Spritzen meine Abwehrhaltung. Vielleicht auch sollte man es nur eine gewisse Ergebenheit in mein Los nennen; ich war eben krank, war Patient und willigte in jede Behandlung ein, die über mich verfügt wurde.
Die Infusion war durchgelaufen, so daß die Schwester den dünnen Schlauch wegnahm und den Venenzugang für diese Nacht verschloß, damit ich Bewegungsfreiheit gewann. Sie wünschte eine gute Nacht und sagte, sie übergebe nun den Dienst an die Nachtschwester. Bald darauf wünschten auch Ahrensold und ich einander eine gute Nacht. Vorsorglich wies ich ihn darauf hin, daß ich vielleicht schlecht schlafen würde und das Licht bei mir daher lange eingeschaltet sei.
"Das macht nichts, Wielau. Seien Sie unbesorgt, ich schlafe trotzdem gut."
Merkwürdig, er ließ die Anrede "Herr" beiseite. Ich tat das gleiche, und so fanden wir eine passende, gut funktionierende Form, die altmodisch sein mochte, aber unseren Bedürfnissen entsprach.
Ich schlief wohl bald ein, wachte aber nach kaum zwei Stunden wieder auf. Die Wunden machten auf sich aufmerksam, bissen mich, aber ich wollte mich nicht auf sie fixieren. Ich lenkte meine Gedanken in eine ganz andere Richtung, holte Erinnerungen herauf, von weit her, bekam meine Mutter vor Augen, wie sie in meiner Kinderzeit war, schlank, schwarzhaarig, eine jüngere Frau. Als ich ein Kind, aber auch noch, als ich dreizehn, vierzehn war, unterhielt sie sich oft mit mir. Was mir von diesen Gesprächen am stärksten in Erinnerung blieb, war ihre weltanschauliche Grundierung. Mit ihr prägte sie damals mein Lebensgefühl. Weil ich meine Mutter liebte, sah ich das Dasein mit ihren Augen an.
Das irdische Leben war kurz und vorläufig. Es enthielt zwar Freuden, war aber oft durch traurige Erfahrungen, durch Krankheit und Unglück getrübt. Das waren Prüfungen Gottes, in denen man sich tapfer zu bewähren hatte und gegen die man nicht aufbegehren durfte. Als Lohn, als unermeßlicher Lohn dafür winkte das ewige Leben im Himmel beim lieben Gott. Wie sehr aber die Dimensionen von irdischer Existenz und glücklichem Jenseits auseinanderklafften, hatte die Mutter mir durch ein Bild klargemacht: Alle hundert Jahre kommt ein Adler auf einen hohen Felsen geflogen, um seinen Schnabel daran zu wetzen. Und wenn der ganze Felsen abgewetzt ist, dann ist erst eine Sekunde der Ewigkeit vorbei.
Diese Geschichte schlug mich in Bann, ich vergaß sie nie. Wie der Felsen so jemals hätte abgetragen werden sollen, konnte ich allerdings nicht nachvollziehen. Ich kannte nur die von steten Schritten ausgetretene Mitte von steinernen Treppenstufen alter Kirchen. Später sagte die Mutter, nur weil es die Ewigkeit gebe, sei das menschliche Dasein sinnvoll; für das kurze irdische Leben lohnten sich alle Anstrengungen nicht.
Als ich mich jetzt in diese Haltung hineindachte, bestürzte sie mich. Mutter, warum hast du das irdische Leben, das einzige, von dem wir wissen und das wir in unseren Adern und mit unseren Sinnen spüren, entwertet und zu einem Prüffeld für ein Jenseits herabgestuft, von dem nichts als vage Hoffnungen herumgeistern? Warum hast du so selten laut gelacht, aus vollem Hals, so selten ein Liedchen vor dich hin gepfiffen? Warum hast du es dir selbst so schwer gemacht? Niemals hast du mich stürmisch umarmt, niemals warst du ausgelassen, immer hast du all deine Gesten nach innen gezogen.
Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, fand nicht in den Schlaf zurück. Mir trat eine Szene in unserer Küche vor Augen. Einmal sang ich, ein kleines Kind noch, einen albernen Schlager nach, den ich im Radio aufgeschnappt hatte: Annelise, ach Annelise, warum bist du böse auf mich? Der Name meiner Mutter hatte mich vielleicht zur Nachahmung verlockt. Kein Lachen ihrerseits, kein Schmunzeln, sondern unverhohlene Enttäuschung, daß sich ihr Junge zu so etwas hinreißen ließ!
Irgendwann übermannte mich die Erschöpfung, meine Gedanken rissen ab. Immerhin war ich erst vor einem halben Tag operiert worden. Der Schlaf war natürlich zerstückelt; in lauter kleinere Phasen von Wachsein und Schlaf spaltete sich die Zeit, wie es zum Zustand eines ernstlich Kranken gehörte. Der Gang zur Toilette fiel mir schwer. Sich im Bett am Haltegriff hochzuziehen kostete Kraft, die in den Oberarmen kaum vorhanden war. Im wahrsten Sinne des Wortes mußte ich mich dazu aufraffen. Die Braunüle störte anschließend beim Händewaschen, so daß ich nur die andere Hand vollständig waschen konnte. Die körperliche Schwäche aber würde mich noch tagelang begleiten. ...
© "Das irdische Leben ist kurz und vorläufig": Für die Textauswahl zur Buchvorstellung "Wielaus Gedankenreise" sowie die Abbildung des Buchcovers danken wir BookOnDemand vabaduse, ein Imprint der Westarp Verlagsservicegesellschaft mbH, 11/2021.
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