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Uriel, ein junger Busfahrer, wird verhaftet, weil er sich in seinem Schulbus an kleine Kinder herangemacht haben soll. Der Vorwurf des Missbrauchs steht im Raum. Dies allein genügt, um eine spektakuläre Verhaftung zu rechtfertigen, die die Eltern der Schulkinder beruhigen soll. Um das Gericht in der späteren Verhandlung milde zu stimmen, lässt sich der Verdächtige freiwillig in die Psychiatrie einweisen. Er gerät in eine sonderbare Welt, offenbart dort aber seinen bizarren Leidensweg.
Die Autorin Sophie Perken erzählt in "Das Mazerat" (*Hinweise zu diesem Begriff siehe weiter unten) die schockierende Leidensgeschichte eines Opfers, das zum Täter wird. Sie lässt ihre Leser in einen Abgrund des Entsetzens blicken, in dem ein Gequälter zum Monster mutiert. Da dem Mann letztlich niemand hilft, versucht er sich selbst zu retten. Durch einen geheimnisvollen Trank, den er "sein Mazerat" nennt, glaubt er, Heilung zu finden. Doch als er gerettet scheint, rächt das Schicksal seine früheren Verbrechen.
Die Taschenbuch-Ausgabe dieses beeindruckenden Romans umfasst 324 Seiten und wurde im April 2020 via Books on Demand veröffentlicht (ISBN 978-3751905640). Sophie Perken hat "Das Mazerat" auch als E-Book herausgegeben.
Die Nachmittage ziehen sich wie Fahrten mit 80 Stundenkilometern durch nicht enden wollende Großbaustellen an Autobahnen. Man ärgert sich, obwohl es eigentlich keinen richtigen Grund gibt: Es sind immer noch drei, nur unwesentlich schmalere Fahrspuren, das Tempolimit senkt bekanntlich das Unfallrisiko und die fehlende Standspur müsste niemand wirklich vermissen. Und doch sind alle Fahrer wesentlich angespannter und viele nach wenigen Kilometern genervt. Spätestens wenn die Finger auf dem Lenkrad das erste Solo trommeln, wäre es höchste Zeit für eine Runde Autokennzeichen-Bingo, aber wer macht das schon...
Die Geschlossene ist noch schlimmer. Man weiß, dass die andern alle Auto fahren dürfen, man selber muss aber die Bahn benutzen. Irgendeine Bahn. Sie schieben einen rein, der Zug fährt los, niemand weiß, wann wieder angehalten wird. Keiner kennt den nächsten Bahnhof. Aussteigen ist sowieso verboten. Der Ton des Personals ist entweder brummig wie ein Elektrorasierer oder nervig wie ein Hammerschlag auf den Daumen.
Wenn dann noch aus dem Nachbarbett das Geräusch einer altersschwachen Waschmaschine im Schleudergang dringt, ist es um die schönste Lethargie geschehen. Ob Schnarchen eine Nebenwirkung von Haldol oder Distraneurin sein kann? Beim schlafenden Konrad wohlbemerkt, nicht als Wahnvorstellung, die sich in Uriels Gehirn geschlichen hat. Denn der hat, im Gegensatz zu Konrad, seine Medikamente schon geraume Zeit abgesetzt. Heimlich natürlich. Sicher sein kann er aber trotzdem nicht. Die Begleitwirkungen von Haldol klingen auch nach dem Absetzen nur langsam ab. Der Grund: Die Konzentration der Droge ist im Gehirn und anderen Organen zwanzigmal höher als im Blut und sinkt nur ganz allmählich. Wer weiß, bei wie vielen Tabletten das genauso ist.
Uriel blickt widerwillig auf den schnarchenden alten Mann, dessen Unterlippe beim Einatmen im Rhythmus des rasselnden Geräuschs zittert. Beim Ausatmen kommt sie zur Ruhe, um ihren Bewegungsdrang sofort neu zu entdecken. Ein Kissen aufs Gesicht? Uriel verwirft den Gedanken. Ein Glas Wasser? Würde Konrad wecken und das Schnarchen beenden, doch ob dann Ruhe einkehren würde? Eher nicht.
Es klopft an der Tür, doch niemand platzt ins Zimmer. Hatte er doch Wahnvorstellungen?
Er beschließt die Nagelprobe zu machen. Um Konrad zu ärgern, ruft, nein schreit er viel lauter als nötig "Herein!"
Eine lächelnde Frau tritt ein. Sie ist nur unwesentlich älter als Uriel, trägt ihren weißen Kittel offen, sodass nicht nur ihre Jeans, sondern auch ein buntes T-Shirt zu sehen ist.
Ich dachte schon, es ist niemand zu Hause, sagt sie und ihr Lächeln wird zum Lachen, das mit Warp 8 durch den Raum fliegt. Uriel ist zu verdutzt, um mitzufliegen, schweigt, während schulterlange braune Haare und grüne Augen vor Konrad erscheinen, der sich nur mühsam aus dem Schlaf schnorchelt. Die Vor-dem-Bett-Schönheit streicht mit ihrer linken Hand schätzungsweise 18 764 Haare hinter ihr linkes Ohr und streckt Konrad die rechte hin. Der schüttelt sie, scheint aber nicht so recht zu wissen, wie ihm geschieht. Als die gleiche Hand auch noch Uriel grüßend zuwinkt, regiert Sprachlosigkeit die Szenerie. Fast als wäre Bundeskanzler Kohl zu Besuch gekommen.
Sie waren heute Vormittag so schnell verschwunden, dabei wollte ich doch nach der Gruppentherapie noch mit ihnen reden, sagt sie. Wollen wir in mein Büro gehen, fragt sie. Also huschhusch aus dem Bett, mahnt sie und ich geh schon mal vor, informiert sie. Dann tanzt sie: Umdrehen, fortfliegen, Türe aufmachen, entschweben und Türe zumachen, bildeten zusammen den spektakulärsten Lambada, den Uriel von einem Arzt je gesehen hat. Da erst kapiert er, was vorgeht: Die junge Schnecke muss die neue Psychologin sein.
Verdammt! entfährt es Konrad. Was will die bloß von mir. Das kann doch nichts Gutes heißen, nicht wahr? Achjasoso! Was meinst du?
Kumpel, ich habe nicht die leiseste Ahnung, gesteht Uriel, fügt aber hinzu: Bei einer derart scharfen Schnalle wär mir das aber auch total Banane. Die ist ja schärfer als Jessica Lange, wenn der Postmann zweimal klingelt.
In Wahrheit findet Uriel natürlich weder die Ärztin noch Hollywood-Schönheiten auch nur ansatzweise aufregend. Doch anerkennende Sätze für weibliche Qualitäten und Attribute gehören schon seit Jahren zu seinem festen Repertoire, um seine eigentlichen Neigungen zu verschleiern. In der Geschlossenen umso mehr, herrscht hier doch für die meisten Insassen eine Art sexueller Notstand. Bei einigen dagegen ersticken Medikamente jede Anzüglichkeit im Keim, bei anderen zeigt sich die Krise ganz direkt in derben Obszönitäten. Auch ein Grund dafür, dass weibliches Personal hier selten und Pfleger – im Gegensatz zu normalen Kliniken – deutlich in der Überzahl sind.
Konrad erhebt sich. Er wirkt hippelig, ja geradezu ängstlich. Er läuft hin und her, pendelt um sein Bett, nähert sich jedoch zunächst nicht der Tür. Stattdessen brabbelt er los:
Angst, immer diese Angst. Was will sie bloß von mir. Kann sie mich nicht leiden? Will sie mich weghaben, wegsperren, wegstecken. Man kann das nie wissen hier. Freundlich tun, ahasoso, hm, ja, ja, ja, aber dann versteckt sich nur ne Hosbeit dahinter. Gnarf, gnarf, das gefällt mir nicht. Wer haufenweise scheitert, kommt ganz schnell auf den Scheiterhaufen!
Schließlich macht er einen ersten Schritt Richtung Ausgang, bleibt aber wieder stehen. Uriel guckt dem Treiben gespannt zu. Trost oder Ermunterung für Konrad hat er nicht, nur Neugierde.
Der Alte wippt von einem Fuß auf den andern, links, rechts, links. Er stellt den rechten Fuß nach vorn, wippt zurück und vor, zurück, vor, zurück, vor, zurück, vor. Dann zieht er das linke Bein nach vorn und hat einen Schritt geschafft. Als habe sich in Konrad eine Bremse gelöst, marschiert er jetzt voran, reißt die Tür auf und verschwindet im Flur. ...
*Hinweis: Mazerat hat zweifelsfrei nichts mit der Figur Oskar Matzerath aus Günter Grass' "Die Blechtrommel" zu tun. Konkret ist Mazerat ein traditionelles Verfahren, um zum Beispiel Inhaltsstoffe aus Kräutern oder Gewürzen zu lösen; siehe dazu auch unseren Beitrag zur "Herstellung von Johanniskraut-Öl".
© "Die schockierende Leidensgeschichte eines Opfers, das zum Täter wird": Herzlichen Dank an die Autorin Sophie Perken für die Textauswahl aus ihrem Roman "Das Mazerat" und die Abbildung des Buchcovers, 07/2020.
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