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Ich meine, man muss schon irgendwie versuchen, 'was zu tun – aber übertreiben sollte man es nicht. Seit mein Stiefvater gestorben ist, hat sich hier einiges verändert. Jetzt lebt meine Stiefschwester natürlich mit mir und meiner Mom zusammen, und wir sind fast gleichaltrig. Das ist aber auch so ziemlich das Einzige, was gleich ist bei uns.
Ich könnte nicht sagen, dass ich sie nicht mögen würde, aber ich muss zugeben, dass sie mir auf die Nerven geht. Sie ist immer, wie soll ich sagen ... irgendwie sieht sie immer aus wie gerade ausgepackt. Ihre Jeans ist wie gebügelt und die blonden Haare zusammengebunden und sowas alles. Vielleicht kennen Sie ja diesen Typ. Mit mir kommt sie halt nicht klar, und als ich mit meinem neuen Zungenpiercing ankam, hat sie fast die Teller fallen gelassen. Es ist schon klar, dass wir meine Mom unterstützen müssen, jetzt wo sie Witwe ist. Ich tu was ich kann, na ja ... vielleicht könnte es mehr sein.
Mom ist völlig weg von meiner Stiefschwester, weil die ihr so viel hilft. Das tut sie echt, und klar, dass ich sie auch deshalb nicht wirklich ausstehen kann. Nach der Schule hilft sie in der Küche, dann setzt sie sich an ihren PC und schreibt Bewerbungen. Mach ich zwar auch, aber doch nicht jeden Tag – es ist noch ein dreiviertel Jahr bis zum Schulschluss. Früher war Mama anders, aber jetzt hat sie an allem 'was auszusetzen. Sie findet meine Haare schrecklich, weil ich sie schwarz gefärbt habe. Hey, geht's noch? Ich bin sowieso brünett, und so groß ist der Unterschied nicht. Die zwei kleinen Piercings an der Nase und der Braue haben ein ganzes Wochenende gekippt. Und das mit der Zunge hat für vierzehn Tage Eiszeit gereicht.
Meine Klamotten sind nicht gut, weil das schlecht aussieht bei Bewerbungen, ich bin zu schnodderig, und überhaupt soll ich mir ein Beispiel an meiner Schwester nehmen. So ordentlich und freundlich und adrett und blah, blah, blah. Und jetzt, wo wir Ferien haben, macht sich Miss Gutherz sofort auf die Suche, um Jobs zu finden. Ich kann's nicht mehr hören, und die sollten schon auf die Reihe kriegen, dass ich eigentlich deswegen immer auf Piste bin.
Und jetzt kommt der absolute Hammer: ich soll bei denselben drei Firmen nach einem Job fragen, in denen mein Stiefschwesterchen so tolle Arbeit geleistet hat. Tu ich's nicht, kann ich den Urlaub mit meinem Freund vergessen – wir wollten mit dem Zelt durch Südfrankreich. Also hab ich mich nach einer endlosen Diskussion mit Mom in "normale" Klamotten geworfen, wie sie das nennt. Also Jeans mit glatten Säumen und ein buntes Sweatshirt.
Ätzend ist das, und ich hoffe bloß, dass mich keiner sieht, den ich kenne. Also hab ich in der Bäckerei angefragt, ob ich aushelfen könnte. Als die checkten, wer meine Schwester ist, haben die sofort zugesagt. Na, und dann ging der Terror los. Ich hab von fünf Uhr nachts bis neunzehn Uhr in der Backstube und im Lagerraum rangeklotzt, Bleche gescheuert und immer wieder alles abgewischt. Wegen dem Gesundheitsamt, sagte der Chef.
Dann hat er in der Nase rumgemacht und ist an die Teilchen, ohne sich vorher die Hände zu waschen. Und unfreundlich sind die ... wenn ich mal eine Sekunde länger gebraucht hab, fangen die an, von meiner Stiefschwester zu schwärmen. Ich hab mit der Zeit rausgekriegt, dass die unheimlich geschleimt haben muss bei denen. Hat auch abends tütenweise Sachen mit nach Hause gebracht. Keine Ahnung, wie das lief – mir geben die nichts mit. Als die vierzehn Tage um sind, hat mir Mom die Ohren vollgelabert mit: "Du hättest dich aber schon mehr anstrengen können, deine Schwester hat einen sooo guten Eindruck hinterlassen."
Dann geh ich zu dem Obsthändler. Der gibt mir auch 'ne Zusage, klar. Denkt wohl, bei uns liegt die Sklavenmentalität in der Familie. Der Kerl ist eine geizige Otter, ich krieg kaum ein kleines Taschengeld für die Maloche. Kisten mit Gemüse haben ein ziemliches Gewicht, vor allem die Äpfel. Die muss ich mit so einem Spray behandeln und mit 'nem Lappen drübergehen. Dabei hat der so einen Aufkleber mit irgendeinem Biokram auf die Dinger gepappt.
Klar, bei dem krieg ich auch keine Obsttüten mit heim wie Schwesterlein. Kann aber damit zusammenhängen, dass ich ihm vor das Schienbein getreten hab, als er mir an den Hintern gegrabscht hat, als er mir in den Lagerraum hinterherkam. Er hat rumgeschrien und gesagt, dass ich abhauen soll. Schlampe hat er auch gesagt, und bei Mom schenk ich mir den Hinweis auf die Tatsache, dass er so begeistert von Schwesterchen war. Und jetzt legen die noch eins drauf, meine Stiefschwester ist krank und ich muss für sie einspringen bei der alten Dame, der sie den Deppen macht. Frau Holle heißt sie und ist sooo nett zu ihr. Reich ist die Alte und ich hab so den Verdacht, dass das kleine Unschuldslamm da gewisse Vorstellungen hat.
Jedenfalls melde ich mich dreimal wöchentlich am Nachmittag bei der Alten und frag, wo ich helfen kann. Die Frau ist echt eine alte Hexe – die kommt honigsüß, so mit "Würdest du bitte ..." oder "Ist es wirklich nicht zu viel verlangt ...". Und wehe, man ist nicht sofort dabei, dann wird die sowas von aasig. Muss ich erwähnen, dass ich mir hier auch nur Loblieder auf mein nettes und fleißiges Schwesterchen anhören muss? DIE hat so sensible Hände, DIE ist so freundlich zu einer alten hilflosen Frau, DER ist keine Handreichung zu unangenehm. Na großartig, denk ich und renne stundenlang die Treppe rauf und runter, suche die Fernbedienung, geh mit dem verzogenen Köter raus und lass mich kritisieren. Nicht mal ein Trinkgeld gibt's, das "kläre ich mit deiner Mutter". Meist liegt sie auf der Fernbedienung und ruft mich dann aus der Küche hoch, damit ich das Teil suche. Ich glaub, dass die das absichtlich macht.
Nun kommt die Alte jetzt damit, dass ich ihr die Fingernägel polieren soll. Ich mach das nicht mal mit MEINEN, echt. Und als die mir zum hundertsten Mal sagt, wie geschickt und sanft doch meine Schwester das macht, unterbreite ich ihr einen Vorschlag. Der hat mit einer bestimmten Stelle zu tun, in die sich die Alte ihre polierten Nägel schieben kann. Ihr schrilles Gekreische kann man noch auf der Straße hören. Ist sogar lauter als die Haustüre, die ich zuknalle. Mir langt's jetzt nämlich wirklich. Ich geb zu, dass ich eine Zeit lang richtig neidisch war, weil jeder, aber auch jeder mein Stiefschwesterchen gut findet – aber jetzt, wo ich die Leute kenne, die so hin und weg sind von ihr ... jetzt denke ich, dass ich wohl besser dran bin. Und nach Südfrankreich fahr ich auf jeden Fall.
© Textbeitrag "Frau Holle zahlt keinen Tariflohn": Winfried Brumma (Pressenet), 2009. Die Illustration der Goldmarie aus dem Märchen "Frau Holle" stammt von Hermann Vogel, Lizenz: gemeinfrei.
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