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George Orwell hat es immer verstanden, Gleichnisse zu erzählen. Ob nun das berühmte "1984" oder "Farm der Tiere" – Bezugnahmen waren immer nicht nur erwünscht, sondern auch nicht zu vermeiden. Beide genannten Werke sind jeweils mehr als einmal verfilmt worden – und das mit großem Erfolg. Die Geschichte von den revolutionierenden Bauernhoftieren wird sogar als Lehrmittel herangezogen – es wird im Englischunterricht an vielen Schulen gelesen, es ist sozusagen Standard.
Aber Orwell war auch ein Meister der eindringlich leisen Töne, was Romane betrifft. Sein Buch "Eine Pfarrerstochter" (A Clergyman's Daughter, erschienen 1935) ist so eine Geschichte, die ganz ohne große Dramatik auskommt. Sie plätschert erst einmal dahin, wie das Leben der Antiheldin, denn genau das ist die Tochter eines englischen Dorfgeistlichen, die da beschrieben wird. Eine nicht besonders hübsche, nicht mehr besonders junge, aber äußerst pflichtbewusste Frau meistert ihr ereignisloses, aber schweres Leben mit der Beharrlichkeit eines treuen Nutzviehs.
Im Pfarrhaus fehlt es meist am Geld, um das Nötigste einzukaufen, und die Frage, wie Bäcker oder Fleischer noch länger hingehalten werden könnten, ist von kardinaler Bedeutung. Der verwöhnte und dominante Vater hat kaum Bezug zu Geld und überlässt es seiner Tochter, solche profanen Dinge zu bewältigen. Genau genommen überlässt er ihr alles, und sie lässt sich alles aufladen, was da kommt.
Ihr Engagement in der Gemeinde ist beispielhaft, sie verbringt ihre karge Freizeit damit, bei der Organisation aller kulturellen Veranstaltungen der kleinen Gemeinde zu helfen oder sie gar allein zu meistern. Zudem ist die Pfarrerstochter sehr ihrem Glauben verhaftet, sie gestattet sich weder Zweifel noch irgendeine noch so kleine Respektlosigkeit und straft sich – ertappt sie sich bei solchen Gedanken – indem sie sich mit einer Nadel sticht.
Und so fließt diese "Nichthandlung" zäh dahin, so zäh wie der Leim, den die völlig erschöpfte Frau kocht, weil noch das Herstellen von Theaterkostümen ansteht. "Zäh" soll an dieser Stelle durchaus nicht "langweilig" heißen, denn man kann sich kaum der Realität des dargestellten Lebens entziehen und fröstelt mit der Heldin, wenn sie sich wieder einmal selber bestraft und ihr morgendliches Bad in eiskaltem Wasser nimmt, und man bewundert widerwillig ihre Geduld mit dem völlig lebensuntüchtigen aber ebenso versnobten Vater. Der Ausweg "Ehe" ist ihr verwehrt, denn sie hat eine unüberwindliche Abneigung gegen die körperliche Seite dieser Angelegenheit, außerdem wäre sie zu pflichtbewusst, um ihren Vater im Stich zu lassen, denn so würde er es mit Sicherheit sehen.
Es könnte endlos so weitergehen, aber dann gibt es einen Bruch im Alltag und eine noch einigermaßen junge Frau findet sich an irgendeiner Straßenecke in einer großen Stadt wieder, ohne auch nur eine Ahnung vom eigenen Namen oder der Herkunft zu haben. Alles, was vor diesem Moment war, ist in ihrer Erinnerung völlig ausgelöscht, sie ist ein völlig "unbeschriebenes Blatt". Recht schnell findet sie Weggefährten, jüngere Leute aus der Unterschicht, die sich auf den Weg zu den Hopfenfeldern machen, um dort als Saisonarbeiter anzuheuern. Die Pfarrerstochter schließt sich ihnen an und lebt völlig anders als vorher, ohne es zu wissen.
Nur eines ist gleich geblieben ... die eintönige Plackerei auf den Feldern und die groß angelegte Ausnutzung der Arbeitskräfte. Das ist das Element Orwells, und er schildert diese Zeit im Leben der Frau so lebendig, dass man glaubt, die Rückenschmerzen mitzuempfinden. Es ist alles anders als im Pfarrhaus, aber die Arbeit, die niemals abreißt und bis in den Abend währt, um mit dem Sonnenaufgang wieder zu beginnen, ist ihrem Körper nichts Neues. Ihr Glaube ist dem Vergessen zum Opfer gefallen, sie weiß nicht einmal mehr, was ein Geistlicher ist, was ihre neuen Freunde zum Lachen bringt.
Irgendwann erlangt sie ihre Erinnerung wieder, es verschlägt sie nach London zu einem Vetter oder Onkel, der ihr Unterkunft gewährt, bis sie eine Stelle an einer der berüchtigten privaten Public Schools findet und dort eine weitere Dimension der Ausbeutung vorfindet. Sie versucht, ein Ideal zu verwirklichen, indem sie sich für ihre Zöglinge einsetzt und ihnen tatsächlich etwas beibringen möchte. Das wird nicht gern gesehen, diese Schulen sind nichts weiter als Aufbewahrungsstätten für die Kinder der Mittelständischen. Es wird nicht wirklich erwartet, dass Wissen vermittelt wird – verlangt wird eine Art Rahmen, der das soziale Gefüge stützt, sonst nichts. Dazu kommt die miserable Bezahlung und auch der Hunger.
Sie, das anspruchslose Arbeitstier, macht eine langsame Wandlung durch – sie erwirbt sich eine gewisse Härte. Sie war den Menschen gegenüber immer distanziert gewesen, ohne es zu wissen, aber als sie letztendlich wieder in das Pfarrhaus zurückkehrt, um ihr Leben wieder weiterzuführen, weiß sie darum. Der kindliche Glaube ist verschwunden und macht einem anderen Platz – sie erkennt, was vorgeht und wo sie steht. Ebenso erkennt sie, dass ihr kaum eine Wahl bleibt und sie nimmt die Last wieder auf – macht genau so weiter wie vor ihrem Abenteuer. Ein Happy End gibt es nicht in dieser Geschichte, nur eine Entwicklung.
Orwell hat einige Zeit auf der Straße gelebt und kennt die Arbeit auf den Hopfenfeldern ebenso wie als Lehrer in privaten Schulen. Was er erlebt hat, nutzt er, um die Geschichte authentisch zu machen, den Leser mitzunehmen ... auf die Straße wie auch in ein kaum beheiztes Pfarrhaus. Die Begebenheiten im Dorf sind wahr erzählt – nicht, weil sich das alles wirklich so zugetragen hat oder die Personen existiert haben, aber irgendwo hat sich dieses oder auch ähnliches abgespielt – und tut das immer noch. Was Orwell beschreibt, ist immer grundlegend wahr, denn an den Dingen, die er schildert, hat sich kaum etwas geändert.
Solche Leben, wie hier beschrieben, sind gelebt worden und werden es immer noch – es spielt keine Rolle wo. Das ganze Buch ist voll von den unglaublichsten Dingen, die völlig unspektakulär geschehen, aber genau deswegen so beklemmend erscheinen. Dramatische Höhepunkte gibt es scheinbar nicht, aber die tiefgehende Geschichte dieses Lebens wirkt lange nach und ist in gewisser Weise beängstigender als "1984" – diese Vision wurde tatsächlich im letzten Jahrhundert zur Wirklichkeit. Aber was in "Eine Pfarrerstochter" beschrieben wird, war es schon lange vorher – und ist es immer noch.
Hinweis: Das Buch ist über den Antiquariatsbuchhandel erhältlich.
© "Eine Pfarrerstochter": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Die Fotografie zeigt George Orwell, Urheber: Branch of the National Union of Journalists (BNUJ), Lizenz: gemeinfrei.
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