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Zum zwanzigsten Mal an diesem Abend knüllte der übermüdete Mensch eine Papierseite zusammen und warf sie an die Wand. Anfangs, als er noch entspannt bei seiner Arbeit saß, hatte er noch in bester Laune Zielwerfen gemacht – auf jeden dritten Wurf kam ein Treffer in den Papierkorb. Das war vor einigen Stunden gewesen, irgendwann war der Mensch es leid und warf frustriert die kleinen Bällchen dahin, wo er gerade Lust hatte.
Er kam einfach nicht weiter, und das Bällchenwerfen milderte ein wenig die Frustration. Eigentlich hatte er sich das sehr einfach vorgestellt, das mit dem Text verfassen. Schließlich konnten das doch alle ... na ja, zumindest sehr viele. Sein Kumpel hatte gemeint, er solle sich doch einmal im Internet umsehen, was nette Menschen betrifft. "Was du brauchst, sind ein paar wirklich nette Freunde, die gerne dasselbe tun wie du", hatte er gesagt.
"Darauf wäre ich nun nie gekommen, du Schlaumeier", hatte da der nette Mann mit dem Freundesdefizit gemeint und die Augen verdreht. "Aber ich werde doch keine Annonce aufgeben, so etwas hat man nun wirklich nicht nötig." Er hatte geringschätzig das Gesicht verzogen und noch gemeint: "Netter Enddreißiger, sportliche Figur und solide, sucht Gleichgesinnte. Soweit kommt das noch!"
Sein Freund hatte dann noch versucht zu erklären, dass ein Text im Internet keine Zeitungsannonce sei, sondern eigentlich etwas ganz Anderes. "Weißt du überhaupt, wie viele Communitys es gibt? Such dir eine aus und tu irgendwas, bevor du hier noch völlig versauerst." Dann war er weg und der geplagte Mensch ließ sich diesen Gedanken durch den Kopf gehen.
Dann hatte er versucht, so etwas wie eine Annonce zu verfassen, wie er sich grimmig eingestand. Sein bester Freund, den er von der ersten Klasse an kannte, war zwar sein Vertrauter über viele Jahre hinweg, doch war dessen Zeit einigermaßen begrenzt. Gemeinsame Freizeitgestaltung kam nämlich nicht infrage, denn Wandern und Klettern war nicht unbedingt eine Leidenschaft von ihm. Unser Mensch aber liebte das und tat es, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte. Aber er wollte es nicht mehr alleine tun, sondern mit anderen Menschen zusammen, die das ebenso mochten wie er. Und wenn dann noch ein besonderer Mensch – eine Menschin sozusagen – darunter wäre, würde ihn das sehr freuen.
Aber es wollte nicht so richtig klappen damit, denn wo immer er sich vorstellen konnte, sich anzumelden, kam dann diese vertrackte Rubrik: "Über dich" oder "Stelle dich mit wenigen Worten vor". Das machte schon Sinn, wie er einräumen musste, aber wie beschrieb man sich denn eigentlich selbst? Und in wie wenigen Worten konnte man das überhaupt?
So war es also gekommen, dass er vor dem flimmernden Bildschirm des Computers saß, sich durch die Plattformen klickte und dann auf den Gedanken kam, erst einmal einen Entwurf zu machen. Auf dem Papier, so richtig schön altmodisch, aber auch irgendwie beruhigend. Hatte er jedenfalls gedacht, allerdings wurde er immer nervöser. Die Farbigkeit seiner Kommentare erhöhte sich mit jedem geworfenen Knüllbällchen, aber aufgeben mochte er eigentlich nicht.
Mitternacht war längst vorbei, als er das letzte Blatt des Schreibblocks zu einer Kugel zusammenknüllte, nachdem er erbittert den von ihm produzierten Schwachsinn überflogen hatte. Wusch, die Papierkugel flog an die Fensterscheibe, prallte dort ab und kam auf dem Boden auf. Dann allerdings federte sie wieder hoch und hüpfte an die gegenüberliegende Wand. Von da aus prallte die muntere Kugel gegen die Zimmertür und dann an die Decke, so als wäre sie eine Gummikugel.
"Ich bin total übermüdet", flüsterte der Mensch und folgte mit leicht geschwollenen Augen dem munteren Treiben dieses kleinen Knüllbällchens. Während dieses von allein unter den Sessel rollte und dann mit kleinen Sprüngen hinter der Couch verschwand, kniff er sich kräftig in die Backe – allerdings erwachte er nicht, sondern spürte den ziemlich heftigen Schmerz.
"Das gibt es doch nicht, ich muss doch träumen", sagte er fassungslos. Und dann hörte er tatsächlich ein feines Kichern und das wuselige kleine Ding tauchte wieder auf und hüpfte auf den Schreibtisch. Allerdings war es nicht mehr grau (100 Prozent Recyclingpapier, ungebleicht) sondern ... ROSA! Das allein war schon erstaunlich, aber dann fing es an zu sprechen. "Du brauchst wohl Hilfe, oder?" Und dann kicherte es und ließ sich gemächlich über die Tastatur rollen.
"W... wer, oder was bist du denn?", fragte der Mensch, der sich gerade damit abfand, dass er wohl völlig meschugge geworden war. "Ich bin doch ein Papierball – und ich bin da, um dich zu unterstützen. Wo liegt das Problem?"
Der Mensch dachte sich, dass es jetzt – nachdem feststand, dass er wohl einen apfelsinengroßen Hirntumor hatte oder so etwas – weiter nichts ausmachte, wenn er einem munteren kleinen rosafarbenen Wesen seine Sorgen mitteilte. Also holte er aus und erzählte von seiner Einsamkeit, seinem Hobby und natürlich von seiner Idee, etwas über sich zu schreiben. Und dass ihm da nichts einfiel, weil er sich für völlig durchschnittlich hielt und eher uninteressant.
Als er fertig war, wurde der Papierball so richtig geschäftig, er hüpfte auf den oberen Rand des Monitors und legte los. "Du wanderst und kletterst gern, ja? Gut gut, dann hast du doch sicher auch Fotos von deinen Touren. Da kannst du ganz viel Sachen dazuschreiben ... deine Gefühle zum Beispiel, als du diese Wand geschafft hattest, oder wie schön es war in diesem großen Wald am See." Der Mensch hörte jetzt aufmerksam zu und verschwendete keinen Gedanken mehr an Tumore.
"Hast du früher mal ein Tagebuch geschrieben? Gut! Da hast du ja nicht nur die Gegend beschrieben, sondern was da in dir vorgegangen ist. Das tust du jetzt auch, kannst ruhig abschweifen in die Kindheit oder so – das alles beschreibt dich besser als jeder Steckbrief. Ist auch eine gute Idee, weißt du, zu fragen, ob jemand das nachfühlen kann, was dich so berührt hat. Sieh mal, wer das gleiche tut wie du, wird sicher diese Gedanken kennen. Und dann, vielleicht lesen das auch Leute, denen das neu ist und die neugierig werden. Jede Wette, dass viele andere auch die schönen Orte kennenlernen wollen oder sogar schon kennen – und dann könnt ihr euch doch so viel erzählen. Hast du das verstanden? Gut. Worauf wartest du dann noch?"
Damit sprang das kleine Wesen auf die Schreibtischplatte. "Liebe zu der Welt und den Menschen ... das ist mein Job, weißt du. Wer da nicht richtig weiterkommt, sendet Rufe aus, die ich empfangen kann. Zeit zu gehen ... du weißt ja, wo du mich findest." Dann machte es noch "pling", und weg war der rosa Papierball. Aber das bekam der Mensch nur am Rande mit, denn er war auf einmal sehr beschäftigt – mit dem Schreiben, das ihm plötzlich richtig leicht von der Hand ging.
Am nächsten Morgen erwachte er mit steifem Rücken und dem Abdruck der Tastatur auf der Wange wie aus einem Traum, aber hochzufrieden, nachdem er den Text noch einmal gelesen und mit einigen Bildern ins Internet hochgeladen hatte.
So kam es, dass einige Wochen später eine Gruppe gut gelaunter Leute in zünftiger Ausrüstung einen Trip in die Berge machte. Und unser Mensch hielt sich vor allem bei einer bestimmten Menschin auf, die ihm sehr nett geschrieben hatte. Sie war, so sagte sie, völlig begeistert davon, wie er seine Erlebnisse beschrieben – und vor allem, wie er seine Empfindungen dabei geschildert hatte.
© "Der Papierball und der verzweifelte Mensch": Geschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Farbige Kreise, CC0 (Public Domain Lizenz).
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