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"Ich denke mir: Das kenn ich doch ... Das sind doch meine DNS-Moleküle ... Ich frage, ob sie nicht jemand haben will ... Wir haben uns aber noch keine Verpackung ausgedacht ... Wie hört man sich das denn an?"
(© Text by Blixa Bargeld, Songtitel "DNS-Wasserturm", Album "Einstürzende Neubauten – Zeichnungen des Patienten O. T.", 1983)
Der Turm schwankt, doch er fällt nicht. Mit angehaltenem Atem erhöhe ich ihn um zusätzliche Millimeter, indem ich ein weiteres Exemplar der National Geographic drauflege. Ich sinke zurück auf die Knie, überlege, spähe, wühle. Die nachfolgende Ausgabe ist, aus welchem Grund auch immer, im Karton zu meiner Linken gelandet, weshalb die Suche ziemlich dauert. Ich wische über das glänzende Deckblatt. Dezember 2003. Staubteilchen wirbeln durch die Luft. Mein Versuch, den Sinkflug einzelner zu verfolgen, scheitert. Sie bilden ein wirres Muster, bevor sie lautlos und unspektakulär mit den Bodenflusen verschmelzen, Nahrung für die unter den Regalen kabbelnden Wollmäuse.
Sorgsam bette ich das Dezemberheft auf den Turm. Mehr geht nicht, spätestens das übernächste wird abrutschen oder noch schlimmer den ganzen Stapel zum Einsturz bringen. Aufgrund der Bindung wächst eine Seite stärker als die andere, was schlecht für die Statik ist. Abhilfe schaffen könnte allenfalls, die Zeitschriften wechselseitig anzuordnen, aber schon bei der Vorstellung überläuft es mich kalt. Zu chaotisch. Abgesehen davon wäre es sinnlos, einen Viertel- oder Dritteljahrgang obenauf zu legen, wenn sich der Rest ganz unten im Folgestapel befindet.
Es hilft nichts, ein neuer Turm muss her. Immerhin, der zuletzt geschaffene hält nicht nur der Schwerkraft, sondern auch einem letzten prüfenden Blick stand. Wird auch Zeit, nach all den Sortiervorgängen, die nötig waren, um sämtliche eingerissene Seiten mit Tesafilm zu kleben und die Eselsohren zu glätten. Manchmal war ich mir auch nicht mehr sicher, ob die Reihenfolge stimmte, sodass ich wieder von vorn anfangen musste.
Ich bin müde. Normalerweise ermuntert mich der Anblick meiner Schätze, aber heute überkommt mich etwas wie Mutlosigkeit. Regale und Tische biegen sich unter der Last, das Wohnzimmer quillt über von Gedrucktem. Mehrere Lagen bedecken den Teppich, ich weiß nicht mal mehr, welche Farbe oder welches Muster er hat. Dutzende Kartons und noch mehr blaue Müllsäcke. Zeitschriften, ein paar Tausend Bücher. Ein papierner Dschungel, mit den Jahren immer undurchdringlicher geworden. Statt sich von den Türmen aus zu lichten, droht er seine Umgebung zu überwuchern. Auch mich. Wie viel davon habe ich gelesen? Einen Bruchteil. Neuanschaffungen und Sortieren erfordern meine ganze Aufmerksamkeit.
Im oberen Stock knarzt regelmäßig eine Diele; Mutter sitzt im Schaukelstuhl. Das Geräusch bricht ab, sie ruft mir zu, was mir einfiele zu fluchen, erneutes Knarzen.
Habe ich? Geflucht? Sicher unbewusst, Mutter entgeht so schnell nichts. "Nein", antworte ich und bete im Stillen, die Lüge möge mir verziehen werden. Die Knie tun mir weh, Zeit für eine Pause. Kann auch gleich einen Kontrollgang machen.
Jetzt bloß nicht gegen einen der fertigen Türme stoßen. Im Seitwärtsgang quetsche ich mich zwischen ihnen hindurch. Geschafft. Automatisch streiche ich die Hose glatt. In letzter Zeit schlottert sie arg, und die durchgescheuerten Stellen sind nicht zu übersehen. Ein Wunder, dass Mutter noch nichts beanstandet hat. Andererseits ... es könnte ihr auch egal sein. Man muss Prioritäten setzen, das hat sie mir von klein auf beigebracht.
Das Wichtigste zuerst.
Den Prinzipien treu bleiben.
Die auferlegten Pflichten erfüllen.
Den Sinn für Disziplin an die Kinder weitergeben. ...
Ob Sammelwut und Ordnungsfimmel dieses Mannes zusammenpassen, lesen Sie im Horror- und Phantastik-Band "Zwielicht 12" (mehr dazu weiter unten).
Die Autorin lebt und schreibt in Braunschweig. Nach Studium und Umschulung war sie längere Zeit in einem therapeutischen Beruf tätig, bevor sie sich für die Selbstständigkeit als freie Texterin und Autorin entschied. Mehr als ein Dutzend Kurzgeschichten wurden bisher veröffentlicht, davon mehrere in "Zwielicht". Mit "Wandelseele", einem zeitgenössischen Fantasy-Werk, steht für Anfang 2019 ihr Romandebüt an.
Auch der 12. Phantastik-Band der Zwielicht-Reihe bietet die gewohnte Mischung aus Kurzgeschichten zum Gruseln, Übersetzungen und Textbeiträgen. Ob Geister, Besessene, dämonische Zahnärzte oder düstere Rocklegenden: "Zwielicht 12" präsentiert Horror und unheimliche Phantastik in all ihren Facetten. Das Titelbild wurde von Björn Ian Craig gestaltet.
Eine Kundenrezension bringt das Wesentliche auf den Punkt: "Ein Buch mit sehr vielseitigen Geschichten, teils tiefgründiger Blick in die menschliche Seele, teils dämonisch, teils fantastisch-märchenhaft, oftmals sehr spannend oder sogar humorvoll. Auch historisch-philosphische Erzählungen sind enthalten. Manche der Geschichten fordern zum mehrmaligen Lesen auf, um die Feinheiten richtig beachten zu können. Alles in allem eine sehr interessante und ungewöhnliche Geschichtensammlung um gruselige, philosophische, märchenhafte unerklärliche und menschliche Themen."
Dieser Sammelband ist als E-Book und Taschenbuch (350 Seiten, ISBN 978-1790374502) erhältlich und wurde im Dezember 2018 veröffentlicht.
Geschichten in "Zwielicht 12":
Carrie Laben – Postkarten von Natalie
Max P. Becker – Strandpoesie
Ralf Kor – Schattensaiten
Enzo Asui – Lilith
Wolfgang Rauh – Die Alptraum- Beule
Sascha Dinse – Elysion
Ellen Norten – Der singende Schleier
Julia Annina Jorges – Diese verfluchten kleinen Dinge
Vincent Voss – Mind Fuck
Michael Tillmann – Warum erlöst sie mich nicht, obwohl sie genau weiß, wo meine Knochen verrotten?
Uwe Voehl – Auge um Auge
Jerk Götterwind – Das Geheimnis der alten Seemannskiste
Waldemar Klauser – Bis zum Ende
Karin Reddemann – Die Herzenswünsche der schönen Lilla
Algernon Blackwood – Smiths Untergang
Tudor Jenks – Phantomschmerz
Anna Alice Chaplin – Drachenthal
Textbeiträge in "Zwielicht 12":
Matthias Kaether – Amazing Stories
Ralf Steinberg – Jenseits sonnendurchfluteter Sommertage
sowie: Vincent Preis 2017, Phantastische Preise 2017, Horror 2017
Mehr Horror und Phantastik: Zwielicht 11: Carl Denning und "Shirley Love" | Zwielicht III: Das Tal der Tiere | Zwielicht X: Unsere Rezension | Zwielicht Classic l: Blind Date
© "Zwielicht 12": Den Herausgebern Michael Schmidt und Achim Hildebrand sowie den beteiligten Autoren / Autorinnen danken wir herzlich für diese Leseprobe und das Coverbild, 05/2019.
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