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Prophezeiungen – da gibt es viele. Es fängt mit einer der frühesten, die man im Leben hört, an: "Du wirst noch mal im Gefängnis landen!" Wurde allerdings mittlerweile ersetzt durch: "Du wirst noch mal Sozialhilfeempfänger!" Ich berichtige hier, denn es heißt ja mittlerweile "Hartz IV".
Von diesen Lichtblicken, die einen Sekundenbruchteil der variablen Zukunft erhellen, kommt man irgendwann zu Prophezeiungen globalerer Natur. Michel de Nostredame, bekannt als Nostradamus, ist so ein Seher gewesen. Nebst vielen anderen seiner Epoche hat er uns sehr vieles hinterlassen. In Versform und leider verschlüsselt. Wahrscheinlich nicht aus Unfreundlichkeit.
Ich persönlich schätze in diesem Fall das Allgemeinverständliche doch mehr. Und der Prophet, den ich ob seiner Verständlichkeit und vor allem seiner Treffsicherheit am meisten bewundere, ist George Orwell. Er beschrieb zu seiner Zeit vieles, was das Leben der Menschen betraf. Er hatte einen unglaublich genauen Blick für Elend, und konnte es schnörkellos und ohne romantisierendes Beiwerk vermitteln. Die Romane, die er schrieb, sind der breiten Masse nicht so sehr bekannt wie zum Beispiel seine "Farm der Tiere", oder natürlich "1984". Eben dieses Werk sollte ihm meiner Meinung nach einen Logenplatz in der vordersten Liga der Seher und Propheten sichern. Mit Samtkissen und seinen Initialen.
Orwell sah mehr als den Überwachungsstaat voraus ... den haben wir und das ist nicht mehr zu ändern. Wo der Staat versagt und die Maschinerie Lücken aufweist, sorgen wir schon selber für absolute Durchsichtigkeit. Dabei hilft uns das Internet. Das ist genauso effizient wie die Kamera, die in jeder Wohnung in Orwells Geschichte installiert ist. Sogar noch mehr, denn wo die Technik nicht greifen sollte, füttern wir den Informationsmoloch Internet ja freiwillig mit allem, was uns betrifft. Inklusive Ehestreitigkeiten und Protokollen von Grillpartys bis hin zu allen unseren Krankheiten.
Die Gesellschaft der zwei Klassen ist in bester Vorbereitung, vielerorts fast schon gelebte Realität und in strukturschwachen Gebieten allgemein spürbar.
Auch in Orwells Vision gibt es jene, die sich verdingen für den Staat – um des Überlebens willen. Von diesen Ein-Euro-Jobs konnte er nichts wissen. Aber vorausgesehen hat er das Prinzip auf jeden Fall. In seinem Buch beschreibt er die Verzweifelten, die für minimalste Entlohnung für das System arbeiten. Das Schlimme daran ist: Wer sich einmal verdingt hat, kann sich nicht mehr befreien. Sie verkaufen ihre Seele, sie gehören dem System.
Wer das Pech hat (denn Pech ist es und in den allerwenigsten Fällen eigenes Verschulden), arbeitslos zu werden, betritt mit eingeölten Schuhen eine Halfpipe. Sollte der Betreffende jenseits der dreißig sein, gerät er sehr schnell in eine Abwärtsspirale. Die Arbeitslosigkeit belastet die Psyche, der Druck wächst. Dem Unterbewusstsein ist nicht beizubringen, dass die Ursachen dafür nichts mit persönlichem Versagen zu tun haben. Und Druck und Zweifel lähmen nun einmal. Je länger der Zustand anhält, desto weniger ist der Arbeitslose in der Lage, seine Situation zu ändern. Nach der zweihundertsten Bewerbung wird man vielleicht ein wenig müde.
Dann kommt der Stellungsbefehl ... früher oder später für die gemeinnützige Arbeit. Das hört sich ja auch nicht schlecht an, ist aber unter dem Strich nichts weiter als die Vermietung von Leibeigenen. Die Leute arbeiten also für Firmen, die Beiträge an die Jobcenter zahlen. Somit sind viele andere Firmen aus dem Rennen, weil sie den Preis nicht unterbieten können. Die Folgen für die Wirtschaft, insbesondere für kleine und mittlere Betriebe muss ich nicht bis ins Detail schildern, denke ich. Die Arbeitslosen selber können sich nicht wehren, sonst laufen sie Gefahr, ihre Bezüge zu verlieren. Viele der in die Zwickmühle geratenen sind vorher selbstständig gewesen und verdanken ihre Misere eben genau diesen Praktiken. Da tut diese zynische Hetze mancher Politiker gegen die "ewigen Schwarzseher" so richtig gut.
Es gibt natürlich auch noch eine Variante: Solche, die einfach nicht aufgeben können oder wollen. Der Gewerbeschein wird nicht abgegeben; die Arge zahlt die Differenz, das ist gut für sie – aber nicht für den Selbstständigen. Der hat die Verantwortung für seine Arbeit und darf auch nur sehr wenig dazuverdienen. Er muss also praktisch auf einen Schlag so viel verdienen, dass er sich von den Bezügen verabschieden kann. Das klappt in den seltensten Fällen, denn ein bis zweihundert Euro mehr im Monat vermindern seine Bezüge. Sollten Aufträge ausbleiben oder storniert werden, hat er nämlich weit weniger Geld als ein regulärer Bezieher. Dass die Auftragslage für Dienstleister nicht berauschend ist, wurde weiter oben erklärt. Die Fraktion dieser Sturen hat zwei Möglichkeiten: die Selbstständigkeit aufgeben und resignieren, oder an ein Wunder glauben. Immerhin noch eine gewisse Wahlmöglichkeit.
So entstand das "Heer der Grauen" – Menschen, die nach allen Seiten hin kämpfen. Gegen die Gesellschaft, die sie nur zu gern als Minderheit, die an ihrer Situation selber schuld ist, sehen will. Gegen die Dämonen in ihrer eigenen Seele, die dasselbe wollen. Gegen die Bürokratie, die Abläufe regelt, die das Menschliche ableugnet, weil es so etwas in der Verwaltung von immer größer werdenden Massen nicht geben kann. Als einzelne Menschen werden sie nicht wahrgenommen, ebenso wenig wie in Orwells Geschichte.
Fernsehreportagen unterhalten mit Berichten über die Abzocker und schüren die Ängste jener, die noch Arbeit haben. Und ebenso wie bei der Propagandamaschinerie in "1984" wird die Angst geschickt umgeleitet. Anstatt auf die Verursacher des Elends wird der Hass, der dieser Angst entspringt, auf die Grauen umgeleitet. Diese Faulenzer, diese Asozialen machen sich einen schönen Lenz und wir müssen hart arbeiten für unser Geld. Wir müssen aufkommen für diese Arbeitsscheuen.
Tatsache ist, dass viele arbeitende Menschen kaum mehr unterm Strich haben als den Sozialsatz. Hier sollte man den Blickwinkel ändern. Nicht die Sozialhilfeempfänger (man verzeihe den antiquierten Ausdruck) haben zu viel – die andern haben zu wenig. Das sollte genügen, um einiges zu hinterfragen.
Orwells Vision hat kein Happy End. Die scheiternden "Helden" seiner Geschichte müssen erfahren, dass das alles nicht einmal einen Sinn hat. Der Beamtenapparat ist eigentlich ein zweckloser Moloch, die Wirtschaft wird künstlich kleingehalten, die Historik eine gigantische variable Lüge. Die wahren Herrschenden verfügen über alles, was den beiden anderen Klassen versagt wird. Natürlich ist die Realität nicht so trist wie in diesem Buch, ganz im Gegenteil: Bunt und schrill ... die Werbung erzählt bonbonfarbige Lügen. Das Ganze wirkt eher wie die "Truman-Show" – jedenfalls was die Oberfläche betrifft. Aber das Heer der Grauen wächst und wächst ... und viele Lügen werden an ihnen abprallen. Weil das, was sie sehen, nicht lebbar und erfahrbar ist für sie. Und man kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Grauen nicht über den nötigen Intellekt verfügen, um ihre Situation zu analysieren.
Durch das willkürliche und zuweilen sinnlose Aussortieren des Systems verfügt das graue Heer über immer mehr brillante Köpfe. Unverbrauchte Jugendliche, Akademiker, Frauen, Menschen, die in der Lage sind, weitsichtig zu denken. Künstler und fähige Leute in allen Bereichen. Da ich nun keine Visionen habe und George Orwell die Geschichte offen ließ, kann weitergedacht werden, wie die möglichen Konsequenzen aussehen werden.
Es könnte noch Varianten geben – allerdings mehr in der Form von Geschichten. Ich habe mich zusammengenommen und keinerlei Parteilichkeit eingebracht. Außer meiner Parteinahme für die Menschen, die in einem verrückten System auf der Verliererseite sind.
Tatsächlich sind es die Intelligenten, die nicht über Ellenbogen verfügen, aus denen sich ein Großteil der Grauen zusammensetzt. Und hier lehrt die Geschichte folgendes: Treib nie jemanden so in die Enge. Auch die Friedfertigsten können reagieren wie eine verrückte Scheißhausratte (das ist eins meiner Lieblingsworte von Stephen King).
© "Hartz IV – Das Heer der Grauen: Die Verlierer": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Verkehrsschild Deutschland, CC0 (Public Domain Lizenz).
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