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Dezember 2024: Der Anschlag von Magdeburg lag erst einen Tag zurück, als Bundesinnenministerin Faeser erklärte, der mutmaßliche Täter sei "offensichtlich islamfeindlich" gewesen. Zudem war in einigen Kommentaren der deutschen Presse zu lesen, dass es sich bei dem Tatverdächtigen Taleb A. um einen sogenannten "Schläfer" handeln könnte.
Der Islam und seine Anhänger sind in den letzten Jahren in Westeuropa verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Besonders brisant ist die Diskussion um Muslime, die die islamische Gemeinschaft verlassen, zum Christentum oder zu anderen Religionen konvertieren. Diese Gruppe wird häufig als Aussteiger oder Konvertiten bezeichnet. Gleichzeitig wird zunehmend über die Sicherheitslage in Westeuropa und die potenzielle Bedrohung durch sogenannte "Schläfer", also Personen, die möglicherweise terroristische Aktionen planen oder durchführen, diskutiert.
Zunächst muss geklärt werden, was unter dem Begriff "Schläfer" zu verstehen ist. In der extremistischen Terminologie ist ein Schläfer eine Person, die sich unauffällig in die Gesellschaft integriert hat, aber Verbindungen zu terroristischen Gruppen unterhält und darauf wartet, einen Anschlag zu verüben oder Informationen zu liefern. Diese Vorstellung stellt eine gefährliche Verallgemeinerung dar, die der Lebenswirklichkeit und den Erfahrungen vieler Menschen nicht gerecht wird.
Die Mehrheit der Muslime in Westeuropa ist friedlich und will Teil der Gesellschaft sein. Sie sind oft auf der Suche nach Identität, Gemeinschaft und Frieden. Sie sind keine potenziellen Extremisten und stellen kein Sicherheitsrisiko dar. Ein pauschales Misstrauen und eine Kriminalisierung dieser Gruppe aufgrund von Ängsten oder Einzelfällen führt nur zu Stigmatisierung und Ausgrenzung. Gleichwohl ist der Zugang zu extremistisch orientierten Ideologien für manche Menschen, die mit inneren Konflikten zu kämpfen haben, ein möglicher Weg der Radikalisierung.
In den letzten Jahren gab es eine Reihe von Vorfällen, die zu Ängsten in der Bevölkerung geführt haben. Insbesondere in Deutschland, das im Zentrum der Flüchtlingskrise steht und eine große Zahl von Migranten und Asylsuchenden aufgenommen hat, kam es zu spektakulären Terroranschlägen islamistischer Extremisten. Ein prominentes Beispiel ist der Fall des Attentäters Anis Amri, der 2016 den Berliner Weihnachtsmarkt angriff. Amri war zunächst als Flüchtling nach Deutschland gekommen, seine radikale Ideologisierung führte schließlich zu einem grausamen Anschlag.
Auch der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Frankreich hat gezeigt, dass die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus real ist. In beiden Fällen wurden die Täter als Muslime identifiziert, was zu einer tiefen Skepsis gegenüber dieser Gemeinschaft geführt hat. Auch wenn sich ein großer Teil der muslimischen Gemeinschaft klar von diesen Taten distanziert hat, bleibt die Angst vor solchen Vorfällen bestehen.
Solche Anschläge werden als Beleg dafür angeführt, dass unter Konvertiten und Aussteigern ein hohes Risiko bestehen könnte. Studien zeigen jedoch, dass die Mehrheit der Muslime – auch der Konvertiten – kein Interesse an Gewalt oder Extremismus hat. Eine Untersuchung des Verfassungsschutzes in Deutschland zeigt, dass die Zahl der islamistischen Gefährder, also der Personen, die als potenzielle Gewalttäter gelten, im Vergleich zur Gesamtzahl der Muslime verschwindend gering ist. Zudem ist zu betonen, dass nicht jeder, der konvertiert oder sich von traditionellen Strukturen abwendet, automatisch ein Sicherheitsrisiko darstellt.
Die Frage nach dem Risiko, das von Aussteigern oder Konvertiten ausgehen könnte, ist komplex. Ein zentrales Argument gegen die vermeintliche Gefahr von Aussteigern oder Konvertiten als Schläfer ist die Tatsache, dass viele dieser Personen häufig auf der Suche nach einer neuen Identität sind und oft stark in der westlichen Gesellschaft verwurzelt sind. Die Motivation zur Flucht aus dem Islam kann aus persönlichen Gründen resultieren, die wenig mit religiösem Extremismus zu tun haben. Häufig handelt es sich um eine Abkehr von gesellschaftlichen Normen oder familiären Erwartungen, die den Betroffenen nicht passen. Der Schritt zur Konversion kann für viele ein Akt der Selbstfindung sein. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Menschen, die eine neue Heimat suchen, gleichzeitig die Absicht haben, der Gesellschaft zu schaden.
Auch wenn Sicherheitsexperten vor möglichen Radikalisierungsprozessen warnen, betreffen diese nicht ausschließlich Aussteiger oder Konvertiten. Vielmehr kann jeder Mensch, unabhängig von seiner Religionszugehörigkeit, z.B. durch persönliche Krisen oder soziale Isolation in eine extremistische Spirale geraten. Dies deutet darauf hin, dass sich in der Anfälligkeit für Extremismus tiefer liegende gesellschaftliche Probleme widerspiegeln, die weit über die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft hinausgehen.
Die Medien und einige politische Aussagen haben dazu beigetragen, ein negatives Bild von Muslimen zu prägen. Häufig wird die berichtete Kriminalität unter Muslimen pauschalisiert und die Angst vor einem möglichen islamistischen Terrorismus genutzt, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Dies führt nicht nur zu einer Verstärkung von Vorurteilen gegenüber der gesamten muslimischen Gemeinschaft, sondern ist auch gefährlich, weil dadurch das Gefühl entstehen kann, dass jeder Muslim potenziell eine Bedrohung darstellt. Komplexe soziale und psychologische Hintergründe von Individuen werden ignoriert, was eine differenzierte Auseinandersetzung mit Aussteigern und ihrer möglichen Gefährlichkeit nahezu unmöglich macht.
Viele Muslime, die sich von extremistischen Ideologien distanzieren, engagieren sich aktiv in lokalen Gemeinschaften und sozialen Netzwerken, um den interkulturellen Dialog zu fördern. Programme zur Verhinderung von Radikalisierung zielen darauf ab, Verständnis und Toleranz zu fördern. Solche Initiativen müssen weiter gestärkt werden, da sie einen wertvollen Beitrag zur Integration und zur Entkräftung extremistischer Narrative leisten können.
Auch Aussteiger und Konvertiten stehen in engem Kontakt mit Gemeinschaften, die sich der Integration, Bildung und Erziehung widmen. Diese Gruppen bieten nicht nur Unterstützung, sondern helfen auch bei der Vernetzung mit der Gesellschaft und der Förderung eines positiven Lebensstils. Viele dieser Organisationen haben Projekte ins Leben gerufen, um jungen Menschen zu zeigen, dass Integration nicht nur möglich, sondern auch wertvoll für die persönliche Entwicklung sein kann.
Trotz der positiven Aspekte sehe ich in den politischen Debatten um Gesetzesänderungen zur Terrorismusbekämpfung eine ständige Fokussierung auf die Gruppe der Muslime. Immer wieder wird auf die mögliche Beeinflussbarkeit von Muslimen durch extremistische Propaganda hingewiesen, was zu einer gewissen Stigmatisierung führt. Die Behandlung des Themas Religion als sicherheitspolitische Herausforderung kann leicht in Diskriminierung und Kriminalisierung münden, was die Gesellschaft weiter polarisiert und Misstrauen schürt.
Die Fälle, in denen muslimische Aussteiger oder Konvertiten an terroristischen Aktionen beteiligt waren, sind Einzelfälle und sollten nicht verallgemeinert werden. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Tätern um Personen, die soziale Probleme in ihrem Leben haben, sei es Arbeitslosigkeit, sozialer Druck oder psychische Schwierigkeiten. Diese Umstände wären ein viel effektiverer Ansatzpunkt für die Prävention von Radikalisierung als die einfache Verknüpfung von Religion mit potentieller Gewalt.
Um der Stigmatisierung entgegenzuwirken, sollten verstärkt Integrationsmaßnahmen und interreligiöse Dialoge durchgeführt werden. Dabei sollten nicht nur Muslime, sondern auch Vertreter anderer Religionsgemeinschaften und Ethnien einbezogen werden, um ein umfassendes gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Bildung spielt eine entscheidende Rolle, um Vorurteile abzubauen und ein solidarisches Miteinander zu fördern. Initiativen in Schulen, Universitäten und Gemeinden können zu einem respektvollen Zusammenleben beitragen.
Die Frage nach dem Risiko, das von Muslim-Aussteigern oder Konvertiten als "Schläfer" ausgeht, muss differenziert betrachtet werden. Zwar kann es immer Einzelpersonen geben, die in den Extremismus abgleiten und damit die Sicherheit gefährden, doch ist diese Gruppe nicht repräsentativ für die gesamte muslimische Gemeinschaft in Westeuropa. Entscheidend ist, dass wir als Gesellschaft eine Balance zwischen berechtigtem Sicherheitsbewusstsein und dem Streben nach Integration und Verständigung finden.
Die Annahme, dass Muslime, die ihren Glauben aufgeben oder konvertieren, potenzielle Schläfer sind, ist nicht nur problematisch, sondern auch gefährlich. Sie negiert die Realität, dass die Mehrheit der Muslime in Westeuropa friedlich lebt und mit extremistischen Tendenzen nichts zu tun hat. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, die wahren Ursachen der Radikalisierung innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften zu verstehen und anzugehen. Vertrauen, Dialog und Integration sind die Schlüssel, um den Herausforderungen der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen konstruktiv und respektvoll zu begegnen.
© "Die Mehrheit der Muslime: friedliche Bürger oder potenzielle Extremisten? Schläfer oder Suchende? Die falsche Verknüpfung von Glauben und Gefahr": Ein Essay von Izabel Comati, 12/2024. Bildnachweis: Brennpunkt, CC0 (Public Domain Lizenz).
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