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Heute stellen wir euch das mehrfach preisgekrönte deutsche Magazin für unheimliche Literatur in seiner sechsten Ausgabe vor. Hier wird euch eine Runde Gänsehaut spendiert! Welche Geschichten genau in diesem Zwielicht-Magazin enthalten sind, erfahrt ihr nach der Leseprobe aus "Kleiner Vogel, flieg!", die der Autor Christian Weis verfasst hat.
In "Kleiner Vogel, flieg!" geht es um Mara, ein jugendliches Mädchen, das verschleppt wird und zusammen mit anderen Frauen von Mädchenhändlern verkauft werden soll. Ob es Mara gelingt, zu fliehen?
Die schwarze Kapuze raubte ihr die Sicht, der Gurt um ihren Hals den Atem. Ihr Schädel dröhnte. Der Schweiß brannte in den Augen und lief zusammen mit den Tränen ihre Wangen hinunter. Eine Plastikhandfessel schnitt ins Fleisch, und ihre linke Seite scheuerte auf dem Fahrzeugboden wund.
Dumpf drangen die Umgebungsgeräusche durch den kratzenden Stoff der Kapuze. Das Dröhnen des Motors, wenn der Fahrer einen Gang runterschaltete. Stöhnen, Schniefen, manchmal ein Wimmern. Angeregtes Geplauder. Männer, die sich in einer fremden Sprache unterhielten. Immer wieder derbes Lachen, gelegentlich ein Husten.
Das Letzte, an das Mara sich erinnerte, war der zweite Cocktail im ROXY, wo sie um Mitternacht Verstecken mit den Türstehern gespielt hatte, weil sie noch minderjährig war. Ein plötzlicher Schwindelanfall hatte sie frische Luft im Gartenbistro des Clubs schnappen lassen, wo sie Kai aus den Augen verloren hatte. Dann war der Film gerissen.
Ihr Freund lag nicht neben ihr in diesem Fahrzeug, bei dem es sich wohl um einen Transporter oder Kleinbus handelte. Sie würde es fühlen, würde sein Aftershave riechen, wenn diese Kerle ihn ebenfalls hier herein geschleppt hätten. Statt Kai roch sie Schweiß und Gummi. Und Angst; die stank am übelsten.
Die Reise ins Ungewisse schien sich endlos hinzuziehen, bis sich irgendwann die Fahrt verlangsamte. Die Bremsen quietschten, und nach einer scharfen Kurve holperte das Fahrzeug über geschotterten Untergrund. Das Vibrieren übertrug sich auf Mara. Als sie über eine Bodenwelle rumpelten, biss sie sich die Zunge blutig. Der Eisengeschmack überlagerte wenigstens dieses eklig Bittere und Saure, das vermutlich daher rührte, dass diese Kerle ihr irgendwas ins Glas getan hatten. Und dass sie sich beim ersten Aufwachen nach dem Knock-out übergeben hatte, als sie in die weit aufgerissenen Augen des toten Mädchens geblickt hatte, das von den Kerlen in einen versifften Schlafsack eingewickelt worden war.
Wieder bog das Fahrzeug ab, diesmal auf glatteren Untergrund, bis nach kurzer Zeit das Ziel erreicht war.
Die Männer stellten ihr Geplauder ein, stattdessen ertönten scharfe Befehle – fast militärisch. Etwas Schweres wurde an Mara vorbeigeschleift. Etwas, das plötzlich einen Schrei ausstieß und mit den Füßen strampelte. Im nächsten Moment erstarb der Schrei zu einem Krächzen.
Mara fühlte sich unter den Achseln gepackt. Mit dem Kopf voraus wurde sie über den Boden ins Freie gezerrt. Hände umschlossen ihre Oberarme und stellten sie auf die Füße, auf denen sie sich nur mit Mühe halten konnte.
Orientierungslos stolperte sie neben einem Mann her, der sie eisern festhielt. Der Untergrund veränderte sich, bald spürte sie glatte Steinfliesen unter den Sohlen. Über mehrere Stufen ging es in einen Raum, in dem die Schritte von den Wänden widerhallten. Auf einen knappen Befehl hin blieben sie stehen. Der Gurt am Hals löste sich, und schließlich zog ihr jemand die Kapuze vom Kopf.
Mara sog die Luft gierig ein und blinzelte, da die Glühbirne der Wandlampe in ihre Augen stach. Ihr Wächter ließ ihren Arm nicht los, packte vielmehr noch schmerzhafter zu.
Neben ihr stand eine junge Frau mit rötlichen Haaren, ebenfalls im Griff eines bulligen Kerls. Sie tauschten kurze Blicke, und in den Augen dieser Frau las Mara alles, was ihnen beiden in den letzten Stunden widerfahren war.
Hinter ihnen schleiften zwei Schlägertypen eine dritte Gefangene herein. Nachdem sie durch einen Kahlgeschorenen von ihrer Kapuze befreit worden war, zeigte sich ein blonder Strubbelkopf. Die junge Frau war höchstens zwei oder drei Jahre älter als Mara.
Über eine Treppe wurden sie ins Tiefgeschoss gebracht, wo auf einem langen Korridor rechts und links jeweils drei Türen in Kellerräume führten. Als Mara erkannte, dass es sich um Zellentüren mit schmiedeeisernen Schlössern und Gucklochklappen handelte, zuckte sie zusammen. Der Glatzkopf hob die Abdeckung des ersten Gucklochs auf der rechten Seite an und schaute kurz hindurch, dann wiederholte er es beim zweiten. Zufrieden nickte er seinen Kumpanen zu. Sie zerrten die Mädchen zum Ende des Ganges, wo sie von einem Maskierten erwartet wurden. Der Hüne hatte die Kapuze seiner schwarzen Joggingjacke über den Kopf gezogen. Vor Nase und Mund trug er eine braune Kunststoffmaske, die Mara an den Gesichtsschutz eines Eishockeytorwarts erinnerte. Seine Augen reflektierten das kalte Licht der Neonröhre, die viel zu modern für das alte Gemäuer wirkte.
Mara wurde zur letzten Zelle geführt, vorbei an dem Maskierten, der sie um einen Kopf überragte. Tief im Innern seiner grünen Augen glomm ein seltsames Funkeln, bevor er ihr zuzwinkerte. Mara verspürte einen Stoß im Rücken und stolperte in den kleinen Raum hinein.
Drinnen hielt sie sich am Metallrahmen eines Stockbetts fest. An der gegenüberliegenden Seitenwand stand ein weiteres. Anderes Mobiliar gab es nicht. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne herunter, die Mara wie das leuchtende Auge eines Gefangenenwärters erschien. Anstelle eines Fensters entdeckte sie in der Rückwand ein Eisengitter, hinter dem sich vermutlich ein Luftschacht befand. Dennoch stank es in der Zelle nach altem Schweiß, Urin und ranzigem Fett. Oder verfaultem Fleisch ... Es brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um sich auszumalen, woher der Verwesungsgeruch stammte. Mara bekam das Bild von den weit aufgerissenen Augen des toten Mädchens nicht aus dem Kopf, das inzwischen wahrscheinlich in diesem Schlafsack verscharrt worden war. Oder irgendwo auf einer Müllhalde abgeladen ...
Widerwillig und voller Ekel starrte Mara auf das Bett. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen, also sank sie kraftlos auf die untere Matratze.
Die anderen beiden Frauen blieben zwischen den Stockbetten stehen. Ein Kerl mit fettigen Haaren und einer Hakennase durchschnitt die Plastikfesseln an ihren Handgelenken und wies auf die freien Betten. "Sucht euch Platz", befahl er in gebrochenem Deutsch, "und haltet Maul!"
Er schien es zu genießen, vor Maras Nase mit der gebogenen Klinge seiner Waffe herumzufuchteln. Es handelte sich nicht um ein gewöhnliches Taschenmesser, und der Kerl konnte zweifellos damit umgehen. Geplatzte Adern durchzogen das Weiß seiner Augäpfel wie Spinnennetze. Sein Atem stank nach Schnaps. Einen Moment fürchtete Mara, er würde zustoßen, doch dann beugte er sich nach vorn, um auch ihre Fessel zu durchtrennen. "Schreien hilft nix", sagte er, während er das Messer zusammenklappte, "hört euch niemand hier. Aber trotzdem: Maul halten, sonst wir kommen. Und ihr nicht wollt, dass wir kommen – glaubt mir!" ...
Ursprünglich 2015 bei "Saphir im Stahl" im VSS Verlag erschienen, wurde "Zwielicht 6" dann Mitte 2017 via CreateSpace neu veröffentlicht. Das Taschenbuch umfasst 278 Seiten (ISBN 978-1544717098).
Die Kurzgeschichten-Anthologie in Sachen Horror gibt es zudem als E-Book im Online-Buchhandel.
In "Zwielicht 6" enthaltene Gänsehaut-Geschichten:
Christian Weis – Kleiner Vogel, flieg!
Henrike Curdt – Das letzte Müsli
Jörg Kleudgen – Penventinue
Tanja Hanika – Schorchengeist
Jerk Götterwind – Ich liebte ein Zombiemädchen
Sascha Lützeler – Absurde Logik
Lothar Nietsch – Zertifiziert
Marcus Richter – Whatever really Happened to Little Albert
Tanja Wendorff – Das Huhn auf dem Klavier
Michael Tillmann – Mit H. P. Lovecraft auf dem Bahnhofsklo
Algernon Blackwood – Max Hensig
Weitere Textbeiträge:
Katharina Bode – 125 Jahre Howard Phillips Lovecraft: Through the Gates of life & fiction
Daniel Neugebauer – ?! oder ein Blick auf Jonathan Carrolls magischen Realismus
Eric Hantsch – Bruno Schulz: Die Mythologie der Häresie
Mehr Horror und Phantastik lesen: Phantastik von Bettina Ferbus: "Spuren im Sand" (aus dem Horror- und Phantastik-Magazin "Zwielicht Classic 9").
© Unheimliche Literatur von Christian Weis: "Kleiner Vogel, flieg!". Dem Herausgeber Michael Schmidt sowie den beteiligten Autoren danken wir herzlich für diese Leseprobe und das Coverbild, 11/2020. Die Titelillustration zu "Zwielicht 6" entwarf Björn Ian Craig, die Innenillustrationen wurden von Oliver Pflug beigesteuert.
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