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Zeitlebens behauptete Onkel Herbert, er sei einmal im Wald von einem Wolf gebissen worden. Niemand in der Familie glaubte ihm die Geschichte: zum einen, weil Wölfe in Mitteleuropa seit Jahrhunderten so gut wie ausgerottet sind; zum anderen, weil Onkel Herbert schon immer log, dass sich die Balken bogen. Es war eine schlechte Angewohnheit von ihm, so wie andere Leute rauchen oder ihre Frau betrügen.
Als Kind erzählte mir Onkel Herbert alle möglichen Sachen: er sei einst als Pirat auf Kaperfahrt gegangen, habe vor der Küste Afrikas Haie gejagt, an einer Expedition zum Südpol teilgenommen, für die Teilnahme an einer Weltraummission trainiert und bei den Olympischen Spielen eine Medaille gewonnen. Andeutungsweise ließ er auch fallen, dass er ab und an undercover für eine ausländische Macht tätig sei, aber aus naheliegenden Gründen zum Stillschweigen verpflichtet sei und kein Wort darüber verlauten lassen dürfe. Natürlich durchschaute ich irgendwann, so im Alter zwischen sieben und acht, Onkel Herberts grandiose Lügen. Trotzdem hörte ich nicht auf, von seinen Lügenmärchen fasziniert zu sein. Ungefähr so, wie man auch irgendwann aufhört, an den Weihnachtsmann zu glauben, und trotzdem jedes Jahr wieder einen Wunschzettel vor die Tür legt, damit die Geschenke dann später auch wirklich unter dem Weihnachtsbaum liegen.
Die Sache mit dem Wolf war unter Onkel Herberts Lügen beinahe die am wenigsten weit hergeholte. Sie war sogar in gewisser Weise beinahe glaubwürdig. Vielleicht hatte sich doch ein einsamer Wolf in den Pfälzer Wald verirrt, man hört ja neuerdings immer, dass sich die Wölfe, aus dem Osten kommend, wieder nach und nach bei uns ansiedeln. Vielleicht hatte also dieser eine Wolf, nachdem er mehrere hundert Kilometer von einer Ecke Europas in die andere gelaufen war, sich hungrig, müde und erschöpft und ohne zu wissen, wo er eigentlich war, in unserer Gegend wiedergefunden, und das erste, was ihm über den Weg lief, war Onkel Herbert – und da hatte er eben, hungrig, müde und erschöpft wie er war, zugebissen. Wenn Onkel Herbert die Geschichte erzählt, klingt sie wesentlich dramatischer, ungefähr so:
Es war Herbst, einer dieser goldenen Herbsttage, wie sie nicht nur in Amerika, sondern auch bei uns zunehmend häufiger auftreten und für die sich der Begriff 'Pälzer Summer' eignete. Onkel Herbert war den ganzen Tag unterwegs gewesen, von Hütte zu Hütte gewandert, er hatte reichlich neuen Wein und Zwiebelkuchen und auch ein paar Schnäpse intus und war irgendwie, er wusste selbst nicht recht, wie und wo, vom Weg abgekommen. Die Markierungen des Pfälzer Wandervereins lassen ja nun tatsächlich zu wünschen übrig, wovon jeder, der sich einmal vertrauensselig abseits der ausgetretenen Pfade und außer Sichtweite der allgegenwärtigen Weinberge und Rebstöcke in den Wald begeben hat, ein Lied singen kann. Öfter als den Wanderer auf geradem Weg zum Ziel zu führen, lenken sie ihn im Kreis oder in Sackgassen oder lösen sich mitten im Wald an einer entscheidenden Gabelung in nichts auf, so dass dem erschöpften Wanderer wenig anderes übrigbleibt, als seinen Weg wieder mühsam an den Punkt zurückzuverfolgen, wo er die Markierung zum letzten Mal gesehen hat – und nicht selten ist sie bis dahin dann auch auf Nimmerwiedersehen verschwunden oder hat sich in ein gänzlich anderes Zeichen verwandelt.
Noch schlimmer ist es, wenn man sich außer auf die Markierungen noch auf einen Wanderführer verlässt: üblicherweise beschreiben diese vom Pfälzer Wanderverein herausgegebenen Büchlein unter Zuhilfenahme der erwähnten kryptischen Markierungen gänzlich imaginäre Routen, die sich in der Realität nirgends finden lassen, einschließlich unsichtbarer Weggabelungen und Aussichten, die es gar nicht gibt oder höchstens in der Phantasie des vom Verlag bestellten Autors, der selber höchstwahrscheinlich selbst nie einen Fuß in den Pfälzer Wald gesetzt hat – er hätte sich darin ja nur hoffnungslos verirren können. Wie dem auch sei:
Onkel Herbert war also ohne es zu wollen genau in die missliche Lage geraten, in die oft auch andere, besser ausgerüstete Wanderer trotz Kompass, Wanderführer und einem Blick für versteckte Markierungen geraten können. Er hatte eigentlich nur von der letzten Hütte, wo er sich neben dem Neuen Wein auch reichlich Schnaps hinter die Binde gekippt hatte, zurück zu seinem Auto finden wollen, das er, wie er sich zu erinnern glaubte, auf einem Parkplatz in ca. 10 min-Fußweg-Entfernung (so drückte es der Wanderführer aus) von der Hütte abgestellt hatte. Jedenfalls meinte er, beim Hinweg nicht länger als 10, vielleicht 15 Minuten zur Hütte gebraucht zu haben.
Und jetzt stolperte er schon mehr als eine halbe Stunde durch den ewig gleichen Wald unter den ewig gleichen Bäumen. Onkel Herbert hatte keinen Blick für die Feinheiten der Natur, die Nuancierungen unterschiedlicher Blattfarben und Borken, die ihm verraten hätten, welche Bäume zu beiden Seiten seines Wegs standen, auch nicht für andere Details wie den Moosbewuchs an den Stämmen, der wie man weiß immer nach Süden ausgerichtet ist, oder die zahlreichen Pilze, giftige und essbare, die überall im dichten Unterholz unter dem Laub hervorsprießten.
Nein, Onkel Herbert wollte nur zurück zu seinem Auto. In der Fremdenlegion hatte es ausgereicht, die Sonne immer im Rücken zu behalten und seinem Kamel die Zügel locker zu lassen, um auf die nächste Oase zu stoßen, aber hier – Onkel Herbert war sich nicht hundertprozentig sicher, aber hatte er nicht genau diese Stelle, mit demselben knorrigen Baum an der Weggabelung, nicht vor ein paar Minuten schon passiert? ...
Was Herbert, dieser Phantast, dann noch erlebt und was seine Verwandtschaft dazu sagt, lest ihr im 14. Band des Magazins "Zwielicht Classic". Die im Oktober 2018 erschienene Ausgabe bietet eine spannende Mischung aus Geschichten der Genres Horror und Unheimliche Phantastik mit Ausflügen zur düsteren Science Fiction. Enthalten sind wie immer herausragende Stories und vergessene Perlen. Das Titelbild entstammt der Feder von Oliver Pflug.
Auch den Sammelband "Zwielicht Classic 14" gibt es als Taschenbuch (201 Seiten, ISBN 978-1729398876) und E-Book im Buchhandel.
Geschichten in "Zwielicht Classic 14":
Erik Hauser – Onkel Herberts große Stunde (2016)
Uwe Voehl – Samt und Tod (2006)
Julia Annina Jorges – Symbiose (2017)
Nina Teller – Was bleibt von dir? (2018)
Frederic Brake – Flüchtige Gedanken (2010)
Canker Driscoll und Uwe Voehl – Marshall Midnight (2008)
Karin Reddemann – Onkel Hartmut kommt (2006)
Friedrich Glauser – Kif (1937)
Gustav Meyrink – Wie Dr. Hiob Paupersum seiner Tochter rote Rosen schenkte (1916)
Willy Seidel – Das siebenköpfige Tier (1936)
Sowie der Textbeitrag:
Karin Reddemann – Die dunkle Muse (2018)
Auf dem Portal von Phantastik-News.de gibt es eine ausführliche Rezension zu "Zwielicht Classic 14" von Carsten Kuhr: schaut auch dort mal vorbei!
Noch mehr Horror und Phantastik: Zwielicht 12: Diese verfluchten kleinen Dinge | Zwielicht 11: "Ein Porträt von Shirley Love"
© "Zwielicht Classic 14": Dem Herausgeber Michael Schmidt sowie den beteiligten Autoren / Autorinnen danken wir herzlich für diese Leseprobe und das Coverbild, 06/2019.
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