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Es sind meine Wälder, das waren sie immer. Ich erinnere mich an keine Zeit, in der das anders gewesen wäre. Die Rhythmen der Gestirne haben sich nicht verändert, seit ich ihrer zum ersten Mal gewahr wurde, und der schnelle Wechsel dessen, was die Menschen Nacht und Tag nennen, zieht an mir vorüber. Manches Mal stehe ich unter den ziehenden Sternen und nehme ihren Gesang wahr, betrachte ihren ewigen Lauf, und dann sehe ich, dass die Blätter von den Bäumen fallen und der große Maler in die Wälder gekommen ist mit seinen Flammenfarben.
Zeit ist nichts, die glitzernden Kristalle des Schnees zeigen mir ihre Schönheit, gleich ob der Wächter des Tages oder aber das milde Licht des Sternenhimmels sie zum Leuchten bringt. Gleich darauf spüre ich das Knistern in der Erde, das ungeduldige Summen, das wieder frisches Grün hervorbringt. Es ist alles eins, doch in der Erwachenszeit bin auch ich offener für das Leben, das sich rings umher entfaltet. Ich höre es, spüre es mit allen Sinnen und begrüße den Kreislauf des Lebens. Und immer, wenn die Erde unter dieser Speiche des großen Rades steht, ziehe ich umher in meinen Wäldern, ungesehen und heimlich. Es gibt nicht nur mich, andere meiner Art leben anderswo. Wir begegnen uns nicht, doch wissen wir voneinander, wenn wir dem Lied der Sterne lauschen in der Nacht.
Doch es zieht mich hinunter in die Täler, dahin wo die anderen leben, die Kinder. Sie sind jung auf dieser Welt, sie wissen nichts, was der Rede wert wäre. Ihre Art ist faszinierend, denn ihr Leben währt nur kurz. So mancher von ihnen wird geboren und stirbt, während ich in meinen Träumen verharre, für sie gilt ein anderer Rhythmus des Lebens. Sie sind neugierig, und sie sind täppisch, wenn sie neuen Dingen begegnen. So vieles zerstören sie, doch gibt es unter ihnen einige, die das Leben spüren können und die ihre Augen hinauf in den Himmel richten.
Da ihr "Hier sein" so sehr begrenzt ist, geben sie den winzigen Einblick, den sie erhaschen konnten, an jene weiter, die nach ihnen kommen. Auf diese Weise setzen sie Teilchen für Teilchen eine Art Bild zusammen, das ihnen erlaubt, mehr zu begreifen. Es unterhält mich, wenn ich ihrem Tun zusehe, denn jedes Mal, wenn ich ihnen nahe komme, haben sie etwas Neues entdeckt und tun Dinge, von denen die meisten sehr sonderbar sind. Diese Geschöpfe vertun die wenige Zeit, die ihnen gewährt wird, mit unverständlichen Taten, aber vieles hat sich ihnen auch erschlossen.
Ich beobachte sie, wenn sie Kräuter suchen und bestimmte Moose, die sie benutzen, um ihre anfälligen Körper zu heilen. Und das Erstaunlichste ist ihre Musik, die sie machen. Nicht wie die Klänge der Gestirne, denn die nehmen sie nicht wahr – es ist wie ein Lachen der Erde selbst, polternd und laut. Sie schlagen auf Felle, die sie über Holz gespannt haben. Es ist kein schlechter Klang, er hilft ihnen mehr als ihre Kräuter – aber das wissen sie nicht.
Aber jetzt gibt es einen neuen Klang, er ist nicht wie die Erde, sondern er ist der Wind, der das Wasser der Seen kräuselt. Er ist ein silberner Finger des großen Nachtsternes, der die geschlossenen Blüten grüßt. Ich kann nicht anders, ich muss ihm folgen und sehen, woraus er gemacht ist. Auf dem Wind reitet diese neue Musik, sie reicht weit in meine Wälder hinein und ruft mich hinunter in das Tal. Grün ist die Welt, alles erwacht wieder, wie es das immer getan hat – doch diese Töne machen es ... größer.
Niemand nimmt mich wahr, wenn ich das nicht will, und so folge ich, bis ich die Quelle gefunden habe. Es sitzt auf einem großen Stein am Ufer eines kleinen Baches, der voller Leben ist, und hält ein Rohr an den Mund, um hineinzuatmen. Daher kommt also die Verwandtschaft mit dem Wind, es ist ihm gleich in gewisser Weise. Eine der Siedlungen ist ganz in der Nähe, es wird wohl zu dieser gehören. Sie, die neuen Kinder der Erde, sind nicht wie ich, sie folgen dem Gesetz der Erde und leben in zwei Strängen. Dieses hier ist weiblich, das kann ich fühlen. Und es ist anders als alle anderen, die ich beobachtet habe.
Als sie gegangen ist, wohl weil sie nicht draußen sein will, wenn ein Gestirn das andere ablöst, kommt etwas über mich, das ich lange nicht gefühlt habe – wie lange, weiß ich nicht. Es ist Traurigkeit, aber von der Art, die wohl tut und das Leben mehr spüren lässt. Das hatte ich vergessen vor unendlich langer Zeit. Ich beschließe, noch zu bleiben und zu warten. Ich will wissen, ob sie wiederkommt und was sie alles erzählt mit diesem Windzauber, den sie gelernt hat zu atmen.
Und sie kommt tatsächlich zu jedem Durchlauf der Himmelswächter. Immer sitzt sie auf demselben Stein am Wasser und zieht mich immer stärker an. Nie ist es traurig, manchmal klingt es wie ein weiterer Bach, der fließt und plätschert, oder wie das Rauschen der Blätter in meinen Wäldern. Ihre Magie schafft eine Verbindung zwischen uns, die mir erlaubt, mehr über sie zu erfahren.
Ohne dass sie mich sieht, komme ich ihr näher und näher, und sie fühlt das. Ihre Augen huschen hin und her und suchen die Umgebung ab, oder sie dreht sich plötzlich um, so als wollte sie etwas sehen, das sich verborgen hält. Es wird zu einem Spiel zwischen uns, denn ich schicke ihr Schmetterlinge hinüber, die um ihren Kopf flattern. Sie lässt ihr Röhrchen sinken und lacht, und das ist etwas wie ein blitzender Fisch im Fluss. Überraschend und schön ... aber sie ist klug, denn sie beobachtet den Waldrand dabei. Dieses erstaunliche Kind weiß um meine Anwesenheit. Dann hebt sie das schlanke Ding an ihren Mund und spielt Töne, die wie die Schmetterlinge sind.
Ich klopfe auf die Erde und ein Hase springt in ihre Richtung, ihre Töne fangen ihn für kurze Zeit ein – sie lernt schnell und ich lerne auch. Das ist wundervoll nach all den Zwiegesprächen mit allem, was schon immer und ewig Eins war und mir kein Rätsel mehr, denn so erhaben die Welt auch sein mag ... es gab nichts mehr für mich zum Erfahren. Wir spielen miteinander, aber heute ist sie anders als sonst – ihre Musik ist kaum lebendig. Sie schluchzt, das ist wie eine Quelle, die zu viel Erde mit an die Oberfläche bringt. Ich habe das schon gesehen bei ihresgleichen, ihre Augen schwellen auf und verlieren Wasser. Sie nennen es Weinen und es kommt vom Herzen, das verletzt wurde.
Wir weinen nicht, wir erfahren solches anders, aber wenn die Harmonie gestört ist, fühlen wir eine Schwere, die uns von allem für eine Weile trennt. Ich will von ihr nehmen, was immer sie beschwert, und ich erlaube ihr, mich zu sehen. Als ich hervortrete, starrt sie mich regungslos an. Ich senke den Kopf um in ihre Augen zu sehen, die die Farbe der Erde haben, und wir sind Eins. Schritt für Schritt kommt sie näher, und dann spüre ich ihre Hand auf meinem Rücken.
Wiederum weint sie, aber diese Wasser sind die der Heilung, das weiß ich genau, als ich meinen Kopf drehe, um sie sanft anzustoßen. Sie lehnt sich an mich und versucht, meinen Hals mit ihren Armen zu umfangen. Als es ihr nicht gelingt, kichert sie leise und streichelt meinen Rücken. Sie sagt viele von den Worten, derer sich ihre Art bedient, wenn sie etwas sagen will, aber einige davon verstehe ich. Immer wieder flüstert sie ein bestimmtes Wort: Einhorn.
© "Die Flöte – Musik der Traurigkeit": Fantasy-Geschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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