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Mein Kopf schmerzt in der Sonne, mein Nacken ist verkrampft vom Gewicht der Krone. Aber noch ist es nicht vorbei, noch sind die Geliebten der Gottheit gebunden an den Tempel und die Priester. Das Zeremoniell ist nicht mehr so steif wie früher – es ist erlaubt, den Kopf zu senken und zu sehen, aber heute bin ich blind vom Sonnenglast. Er zittert neben mir, ich kann es fühlen.
Er sollte den Text nicht deklamieren heute – ich habe ihn darum gebeten, es dem Oberpriester zu überlassen, aber er glaubt, dass nur er die Hymnen an seinen Vater mit der nötigen Inbrunst vortragen kann. Meine Kinder stehen vor uns am Altar, nur die Kleinste nicht. Sie schläft unter den sanften Bewegungen des Straußenfächers, den ein Diener unter den strengen Augen der Amme bewegt. Ich wäre so gern bei meinem Kleinod, sie ist nicht gesund ... war es nicht von Anfang an.
Er will es nicht sehen – er verbannt alles aus seinem Herzen, was von dem abweicht, das er glauben will. Aber er ist der Sohn des Gottes. Wer bin ich, dass ich meine Hand ausstrecken und versuchen will, ihn in seinem selbstgewählten Reich zu berühren? Der Weihrauch macht meine Augen trocken und rötet sie, ich muss meine ganze Willenskraft aufbieten, um die Haltung beizubehalten.
Ah, der junge Priester hat den Gesang beendet, jetzt wird mein Gemahl an den Altar treten und seine Stimme erheben. Er geht aufgerichtet und mit erhobenen Händen, seine Stimme ist kraftvoll, wie sie es sonst nicht ist. Wenn die Schmerzen über ihn kommen und er seinen Kopf an meiner Schulter oder in meinem Schoß birgt, klingt dieselbe Stimme wie die eines Kindes.
Manchmal nennt er mich "Mutter" – das sind die Augenblicke, in denen sein Blick sich trübt und er nicht mehr weiß, was um in herum vorgeht. Als wir vermählt wurden, hat seine Mutter mir davon erzählt. Sie fürchtete, dass ich erschrecken und vielleicht in meiner Unerfahrenheit etwas Dummes tun könnte. Niemand sollte von diesen Besessenheiten wissen. Das war ihr Wort für diese Anfälle: Besessenheiten.
Es kam nicht oft vor, dass ich seinen alten Leibarzt rufen musste, nicht am Anfang. Der Alte war verschwiegen und treu – er wusste, was zu tun war und tat es schnell und verständig. Wenn mein Gemahl dann schlief, nachdem er die Tränke zu sich genommen hatte, entspannte sich sein Körper wieder, und wenn er wieder erwachte, war er völlig Herr seiner Sinne. "Ihr müsst verstehen, Hoheit, dass der tiefe Schlaf ihn schützt vor dem Fluch der Krankheit", hatte der Arzt mir gesagt. Sein Herz kann die Gesichter, die ihn so erschöpfen und fremd wirken lassen, nur loslassen, wenn der Schlaf ihn umfängt. In meiner Angst fragte ich, ob es denn keine Heilung gäbe. Doch der alte Heiler hatte nur gesagt: "Ich weiß es nicht, Herrin, denn er ist von den Göttern berührt."
Noch immer trägt der Herrscher die Hymne vor, und meine Gedanken schweifen ab in die Vergangenheit, als ich als Braut in den Palast kam. Aiya ... wie war ich unglücklich über meinen Gemahl. Er sah gewiss nicht aus wie die strahlenden Helden in meinen Mädchenträumen, er besaß weder die schöne Statur eines Wagenlenkers noch war er übertrieben liebenswürdig. Man hatte mich nicht gefragt, ob ich als die Gemahlin des Thronfolgers in den Palast der Hauptstadt einziehen wollte, aber man hatte mich gewarnt. Seine Mutter erwies sich als klug und vorausschauend, wenngleich auch kaltherzig. Sie bekämpfte mich nicht, sondern unterstützte mich am Anfang sogar.
Die Königsgemahlin hatte ihre Stellung über all die Jahre bewahrt, nicht nur als leeren Titel, sondern als die zweite Macht des Landes. Wenn sie nicht allzu sehr mit dem Frauenhaus und seinen Intrigen beschäftigt gewesen wäre, hätte sie noch weit größeren Einfluss haben können. Ich weiß noch, wie sehr ich mich fürchtete vor dem Alleinsein mit meinem Herrn, der er ja nun war. Ich fand ihn hässlich und beängstigend – etwas loderte in seinen Augen, vor dem ich Angst hatte. Aber er tat nichts in dieser Nacht, er sprach mit mir wie mit einem Freund. Ich erkannte mit Entzücken, dass mein Ehemann zwar hässlich, aber sehr gebildet war.
Nie hat jemand erfahren, was wir taten in diesen ersten Nächten unserer Ehe, der Hof wäre entsetzt gewesen. Dieser mein Mann warb um mich, wo er doch das Recht gehabt hätte, mich einfach zu nehmen. Die Worte, die er sagte, werde ich niemals vergessen: "Die Herzen müssen Hochzeit halten, nicht das andere. Die, welche mich wirklich berührt, ist meine Gemahlin – nicht diejenige, die ich anfasse." Ah ... diese Worte bezauberten mich mehr, als es irgendeine Heldentat oder Komplimente eines schönen Jünglings je gekonnt hätten. Und niemand tuschelte hinter vorgehaltener Hand über den flachen Leib der Prinzessin, denn der wölbte sich ziemlich schnell.
Es ist so, dass ich ihn, meinen Gatten, in kurzer Zeit sehr lieben lernte. Nicht nur das – ich bewunderte ihn und seinen hochfliegenden Geist. Nächtelang wanderte er ruhelos in unseren Gemächern umher und sprach mir von den Dingen, die er tun wollte, sobald er König wäre. Unerhörte Pläne waren das – Ideen, die den Himmel selber angriffen. Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als er über die Tempelgänge lachte und die damit verbundenen Zeremonien. Er machte seine Witze über die Priester und verglich ihre Eigenarten mit Tieren. Des Nachts ahmte er sie nach und brachte mich zum Lachen. Er nahm mir alle Angst vor den Göttern, denn sie waren nur Verkleidungen des EINEN, wie er sagte. Er nannte sie "Diener des Höchsten" und weigerte sich, das Knie zu beugen.
Damals war alles abenteuerlich und neu, und ich glaubte ihm, wie ich ihm auch jetzt noch glaube. Oder ich zwinge mich dazu, denn die Jahre haben gezeigt, dass die Götter unverlässlich sind und ihnen nichts liegt an denen, die auf der Erde wandeln.
Als mein Mann gekrönt wurde, nahm er den Kampf, den er verdeckt ausgetragen hatte, öffentlich auf. Er brach die ungeheure Macht der Priester und nahm ihnen ihre Schätze. Der oberste aller Götter, der Schöpfer aller Dinge, war nun der EINZIGE und WAHRE. Die Tieropfer wurden nach und nach abgeschafft, kein Blut mehr verunreinigte die Tempel. Der Sohn des Gottes hasst Blut.
Aber die Abstände zwischen seinen schlimmen Zuständen wurden immer kürzer, und auch nach den "Besessenheiten" klärte sich sein Geist nicht gleich wieder, so wie früher. Es war, als weigerte sich sein Geist wieder zurückzukehren. Viele Nächte weinte ich, wenn er mich nicht erkannte, oder auch unsere Kinder, denen er sonst alle Zärtlichkeit zukommen ließ.
Die neuen Tempel haben keine Dächer, sie lassen die Strahlen der Sonne ungehemmt auf die Gläubigen einwirken. Und er, der Sohn der Sonne, weigert sich, das Haupt zu bedecken. Als ich ihn bat, die Krone zu tragen, oder das Kopftuch, herrschte er mich an, er nannte mich ungläubig und schrie, dass er enttäuscht sei von mir. Wie ich nur glauben könne, dass sein Vater ihm schaden würde. Solange er die Hymnen singt, die er selber verfasst hat, diese herrlichen Lieder, ist er barhäuptig und den Strahlen ausgesetzt.
Er wird später zusammenbrechen und in Krämpfe verfallen, und meine Diener werden ihm ein Holzstück zwischen die Zähne schieben, damit er sich nicht die Zunge abbeißt. Er schläft kaum noch, die Mittel wirken lange nicht mehr, denn die Dosis kann nicht mehr gesteigert werden, ohne dass es ihm schadet. Er wütet gegen sich selbst, gegen mich, aber niemals gegen seinen Gott.
Unter seinen Augen versammeln sich seine alten Feinde wieder gegen ihn – die früheren Priester der einstmaligen Hauptgötter – und spalten das Volk, und was noch schlimmer ist: die Armee. Seit der Pharao sein Herz von den Leiden seines Volkes abgewendet hat und nur noch seinem Gott lebt, haben die Abtrünnigen wieder an Stärke gewonnen. Alles zerfällt und es hat Mordanschläge auf die Sonnenpriester gegeben. Man sagt ihm nichts mehr von den Altarschändungen, die vermehrt vorkommen, denn es würde zu schlimmen Zuständen führen.
Sein Geist ist – das gestehe ich mir ein – umnachtet, und die hellen Strahlen seines göttlichen Vaters erhellen ihn nicht mehr. Er ist vom Tod gezeichnet, ausgezehrt, und mit umschatteten Augen sitzt er auf dem Thron und starrt hinauf zur Decke, es wird nicht mehr lange dauern. Beendet kein Dolch oder Gift sein Leben, wird es sein Wahnsinn sein. Vielleicht habe ich erkannt, dass alle Götter ein Gott sind, gleich welchen Namen sie tragen. Wen immer die Menschen anbeten, mag er Widderhörner haben oder eine feurige Scheibe sein, nichts kann verhindern, dass Schlimmes über sie kommt.
Gleich werden wir den Tempel verlassen und zum Palast zurückkehren, es gibt keine Hochrufe mehr – nur hier und da ruft man noch den Namen, den man mir gab an meinem Hochzeitstag: "Da kommt sie, die Schöne ... Nofretete!"
© "Die Schöne – die zweite Macht des Landes": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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