|
Die Hände des alten Mannes streichen zart über das Gefieder der Vögel, verweilen hier und da ein wenig und ruhen dann wieder auf der Lehne seines Stuhles. Sein Gesicht ist wie eine Landschaft, die sich vor Urzeiten geformt hat – tiefe Falten, die wie Kanäle aussehen, die vom Fluss der Gedanken gegraben wurden über lange, lange Zeit.
Der Stuhl steht nah am offenen Fenster, die Abendsonne hat noch ein wenig Gold übrig, das sie wie einen Gruß auf das schmale, hölzerne Sims legt. Der Alte sieht hinaus, aber sein Blick ist nicht auf das gerichtet, was vor dem Fenster liegt, sondern scheint sich in weiter Ferne zu verlieren. Ein Auge ist mit einem milchigen Schleier überzogen, so dicht, dass es wirkt wie aus Porzellan. Seine beiden Lieblinge sind auf seine Schultern gehüpft und schnäbeln freundlich am dünnen, weißen Haar des Mannes. Der neigt den Kopf abwechselnd dem einen Vogel zu, dann wieder dem anderen. Wer hier in diesem Raum wäre, könnte das leise Kichern und die geflüsterten Worte hören: "Ist das so?", und "Was gibt es noch, mein Guter?" Dann senken sich die Lider und der Mann seufzt tief auf, sein Atem geht schwer und ein wenig rasselnd. "Nein, das können sie doch nicht tun ...", keucht er – ein im Selbstgespräch versunkener Greis.
Die beiden Vögel verhalten sich nun ruhig, so als wollten sie auf den Schultern des Mannes ihr Schläfchen halten, und der Alte bewegt sich nicht, um sie nicht zu stören. Seine Gedanken wandern fort, weit in die Vergangenheit hinein – so weit, dass niemand ihm folgen könnte, denn niemand könnte diese Erinnerungen teilen, weil es niemanden mehr gibt, der alt genug dazu wäre. Alle sind gegangen vor langer Zeit, ob sie nun stark waren oder listig, treu oder falsch. Er allein blieb, denn sein Metier war das Wissen und die Verständigung. Das hat ihn am Leben gehalten bis jetzt und ist zu einem Fluch geworden. Er weiß, was vorgeht, er versteht es auch – er versteht es nur allzu gut.
Fernab von allen Menschen sitzt er hier und ist dazu verdammt, alles zu erfahren, was geschieht, alle Fäden im Muster zu sehen und seine Trauer darüber nicht beenden zu können. Seine Zeit wäre längst zu Ende gegangen, aber dann brach ein neues Zeitalter an ... und es gab Maschinen, die Worte und Gedanken verbreiten konnten ... immer neue Wunder kamen auf, bis Worte so schnell reisen konnten wie Gedanken. Und ein wahnsinniger Wirrwarr von Worten und Nachrichten wie ein Netz, das jede Stunde engmaschiger wird, die Erde bedeckte und sogar den Himmel einspann. Das war es, das ihn hielt, und das ihn daran hinderte, fortzugehen wie die anderen. Sein immer noch mächtiger Geist war fähig, diesen aufblitzenden und sternenzähligen Strängen zu folgen, sie zu lesen und das Muster zu erkennen – und dieses Unglück war sein Fluch geworden.
Worte, ob nun geschrieben oder gesprochen, waren ein kostbares Gut ... sie waren Botschafter des Inneren, waren Friedensstifter oder Kampfbringer. Sie waren notwendig, denn die Menschen konnten nicht hören, was nicht ausgesprochen wurde. Sie waren auf Worte angewiesen, und deshalb war es wichtig, dass Worte mit Bedacht gesprochen wurden. So manches voreilig Gesagte hatte sich gegen den Menschen gewendet, der es ausgesprochen hatte, das war immer so gewesen und war auch heute noch so. Doch niemand wusste das mehr, es war wie ein riesiges Fass, in das tausende von Löchern geschlagen waren, aus denen es unablässig tropfte, sinnlos, verschwenderisch und mit einem fürchterlichen Rhythmus, der den Kopf quälte.
Der Alte verglich die Menschen, die Worte in die Maschinen strömen ließen, mit Narren, welche das Ei auf die Erde warfen und dann die Schale aufhoben und für wertvoll hielten. "Geblöke und zielloses Gekrakel um nichts und wieder nichts, und sie verderben die eigene Wohnstatt, die sie haben." Diese Worte zischte der Alte vor sich hin, dann setzte er die beiden schwarzen Vögel sachte auf die hohe Lehne seines Stuhles und erhob sich, um an das Fenster zu treten und es zu schließen. "Für heute soll Ruhe sein, morgen fliegt ihr aus und bringt mir, was ich schon wissen werde – ich wollte, ihr tätet es nicht." Dann setzte er sich wieder in seinen Stuhl, zu Hugin und Munin, den Raben des Odin, und starrte still in den dämmrigen Raum.
© Kurz-Erzählung "Hugin und Munin: Die Raben des Odin": Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Die Abbildung zeigt die zwei Raben Hugin und Munin auf Odins Schultern (Quelle: Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei).
Archive:
Jahrgänge:
2022 |
2021 |
2020 |
2019 |
2018 |
2017 |
2016 |
2015 |
2014 |
2013 |
2012 |
2011 |
2010 |
2009
Themen:
Autor werden |
Buch-Rezensionen |
Ratgeber |
Sagen & Legenden |
Fantasy Mythologie |
IT & Technik |
Krimi Thriller |
Fachartikel & Essays |
Jugend- & Kinderbücher |
Bedeutung der Tarotkarten |
Bedeutung der Krafttiere
Noch mehr Bücher lesen (Werbung):
Fantasy & Science Fiction
| Krimis & Thriller
| Ratgeber
| Reise & Abenteuer
Sie schreiben anspruchsvolle Romane und Erzählungen? Wir suchen neue Autorinnen und Autoren. Melden Sie sich!
Wenn Sie die Informationen auf diesen Seiten interessant fanden, freuen wir uns über einen Förderbeitrag. Empfehlen Sie uns auch gerne in Ihren Netzwerken. Herzlichen Dank!
Sitemap Impressum Datenschutz RSS Feed