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Der hagere Mann mit der Brille und dem schütteren Haar ist aus den zeitgeschneiderten Robin-Hood-Geschichten der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts nicht wegzudenken. Der Journalist tat etwas, das sonst eigentlich niemand tat – er ging den Dingen auf den Grund. Die "Studentenrevolution" der 68er-Bewegung hatte zwar vor, die Welt grundlegend zu verändern, ging die Sache allerdings eher theoretisch an. Marx, Engels und Che Guevara wurden durchweg zitiert, wahrscheinlich auch verstanden ... aber niemand dachte daran, das auf die Realität anzuwenden. Zu unserem Glück, möchte man sagen – denn der real existierende Sozialismus im damals "anderen Teil Deutschlands" war nun auch nicht das gelobte Land der Weltverbesserer.
Wer das nicht sehen wollte, war ein Meister in Sachen Realitätsverdrängung. Jeder wusste im Prinzip, worauf es ankommen sollte, und das ganze Land war in Debatten verstrickt. Die Ideen der Studentenbewegung und ihrer Sympathisanten waren einfach nicht mehr zu unterdrücken, die Zeit war reif dafür, und diesen Kämpfen verdanken wir schon einige Verbesserungen, die heute selbstverständlich sind (und gerade still und leise wieder abgebaut werden). Nur halfen die damaligen heißen Diskussionen, die Podien und Demonstrationen den Leuten an der so genannten Basis nicht im Geringsten.
Wer im Akkord arbeitete, hatte andere Probleme, die mehr als doppelt belasteten Frauen auch. Es gab zwar die Zeitschrift "Courage", aber deren Anspruch ging weit an den real existierenden, benachteiligten Frauen vorbei. Die lasen eher Emma, wenn sie Zeit dafür erübrigen konnten, denn die befasste sich eher mit den Problemen der Frauen ohne Abitur oder Hochschulabschluss. Die Arbeiter aus den Produktionsbetrieben waren trotz des Wandels auf sich selbst angewiesen, denn kaum jemand aus der Riege der Intellektuellen hatte schon einmal in deren Schuhen gestanden, wie es so schön heißt. Ein sechswöchiger Job in den Semesterferien ist da nicht genug, um zu wissen, wovon man redet.
Günter Wallraff tat nun etwas sehr Interessantes ... etwas, worauf noch keiner gekommen war von den Galionsfiguren der Bewegung. Er arbeitete in Fabriken und schrieb darüber – als einer derjenigen, die am Fließband stehen. Und er landete einige sehr verwegene Coups. Seine Zeit als "Hans Esser" bei "Bild" ist einer der genialsten Streiche seiner Laufbahn. Für ihn war es nicht sehr lustig, aber was er an Ungeheuerlichkeiten aufdeckte, erschütterte sogar die eingeschworenen Gegner dieses Blattes. Wallraff passte sich an, schleuste sich ein und recherchierte verdeckt, wo immer es ihm notwendig erschien. Als Alkoholiker in der Psychiatrie, als Obdachloser, oder als Arbeiter bei Thyssen ... er brachte sich völlig ein.
Wallraffs Laufbahn als Enthüllungsjournalist begann, als er von Heinrich Böll ermutigt wurde, seine Tagebücher, die er als Wehrdienstverweigerer geschrieben hatte, zu veröffentlichen. Was man da nachlesen konnte, ließ die Armee der Bundesrepublik nicht allzu gut aussehen und verwunderte eigentlich keinen. Und als schon viele der langhaarigen Oppositionellen längst mit adrettem Haarschnitt im öffentlichen Dienst arbeiteten, setzte dieser Besessene tatsächlich noch eins drauf. Mit schwarzem Haarteil und dunkelbraunen Kontaktlinsen ausgestattet ging er als türkischer Arbeitssuchender auf die Straße. Die Erlebnisse "Alis" kann man nachlesen in dem Buch "Ganz unten" und fragen, warum jemand sich das antut. Denn ganz ungefährlich ist das nicht, vor allem nicht der Selbstversuch, in dessen Verlauf Ali in einer deutschen Fankurve eines Fußballstadions Präsenz zeigt.
Die Zeitschrift "Emma" kritisierte das Buch ebenso wie die Aktion Wallraffs sehr stark – der Grundtenor ging dahin, dass der Autor die Situation der ausländischen Frauen in seiner Recherche nicht berücksichtigt hatte. Viele sahen das als einigermaßen übertrieben an, denn es gibt nicht viele türkische Frauen, die im Sinter bei Thyssen arbeiten. Einige der sonst treuen Leser hatten den Gedanken, dass doch eine der Redakteurinnen, die Wallraff kritisierte, selber zum Kopftuch greifen und sich in irgendeinen Betrieb schleusen solle. Bedauerlich, dass niemand bei Emma auf diese Idee gekommen war.
Günter Wallraff zeigt immer noch ungebrochenes Engagement in Sachen Basis, er geht als Afrikaner auf die Straße oder macht Missstände öffentlich. Mundtot machen wollten ihn schon viele – doch meist entschieden die Gerichte zu seinen Gunsten. Wie immer man zu dem steht, was der Enthüllungsjournalist tat und tut, seine Zivilcourage muss man bewundern. Gerade die "Hartz IV Debatte" bräuchte vielleicht genau so eine Stimme. Man stelle sich einen Menschen vor, der sich genau das antut: seinen Job kündigen und staatliche Hilfe beantragen, um seine Erlebnisse und Erfahrungen dann öffentlich zu machen. Denn wie gewöhnlich werden die Kämpfe nicht von den Betroffenen ausgetragen, sondern von Menschen, die sich nicht einmal ansatzweise vorstellen können, wie es ist, wenn man für jede noch so geringe Ausgabe den gesamten Etat durchrechnen muss.
Das Problem mit der Basis ist immer noch das Gleiche – das Wissen ist abstrakt und tatsächliches Nachvollziehen gibt es nicht. Es ist das Leidige mit den Büchern der etablierten Autoren: diejenigen, die es angeht, lesen es nicht – und die es lesen, wissen im Grunde schon Bescheid. Und da hatte Günter Wallraff eingehakt ... genau da. Und plötzlich wussten sehr viele Menschen sehr gut Bescheid, weil einer direkt dabei war und es auch weitergeben konnte – beziehungsweise den Mut dazu hatte und hat.
Zur Webseite von Günter Wallraff. Bücher von Günter Wallraff.
© "Till Eulenspiegel und Robin Hood: Günter Wallraff". Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2011. Bildnachweis: Leere Fabrikhalle, CC0 (Public Domain Lizenz).
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