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Die Frau, die vor mir auf dem schmalen Waldweg ging, hatte mein Interesse geweckt. Es lag nicht an ihrem Äußeren, das war eher unauffällig: Regenjacke, Jeans, knöchelhohe Wanderschuhe. Ihr kurz geschnittenes Haar war grau, und ich hatte ihr Gesicht noch nicht gesehen, da ich die ganze Zeit hinter ihr hergelaufen war. Nicht dicht, das nicht – aber doch nahe genug, dass mir ihr Verhalten aufgefallen war. Die Frau ließ Blümchen auf den Weg fallen, kleine bunte Blümchen, die sie in einem dicken Strauß mit sich trug.
Mich hatten die Kopfschmerzen an diesem eher trüben und regenträchtigen Morgen hinausgetrieben, erfahrungsgemäß verschwanden sie nach einem längeren Waldspaziergang. Dass ich auf viele Spaziergänger oder Wanderer treffen würde, hatte ich nicht erwartet bei diesem Wetter – und so war es dann auch. Bis auf diese Frau, die wie ein Blumenmädchen bei einer Hochzeit mit Blüten um sich warf. Eigentlich bin ich kein aufdringlicher Typ, ich beobachte meine Mitmenschen nicht sehr genau, weil ich gerne "lebe und leben lasse", was meine wenigen Kumpels gerne als Oberflächlichkeit auslegen, aber das hier machte mich nun wirklich ein wenig neugierig. Und so fiel ich in einen leichten Trab, der mich recht schnell an die Blumenfee heranbrachte, denn sie ging nicht besonders schnell.
Als ich auf gleicher Höhe mit ihr war, riskierte ich den ersten Blick in ihr Gesicht und lächelte sie an. Wahrscheinlich war sie in den Fünfzigern oder sogar etwas drüber, ihr Gesicht sah freundlich aus und trug keine Spur von Make-up. "Hallo", grüßte ich sie und lief neben ihr her. Sie hatte graue Augen, die mich freundlich und forschend musterten. "Hallo", sagte sie dann auch und lächelte mich an. "Sie sind schon eine ganze Weile hinter mir, nicht wahr, junger Mann?" Das konnte ich nun kaum abstreiten und entschied mich für Ehrlichkeit. "Ja, und ich möchte gerne wissen, wieso Sie die ganze Zeit über Blumen auf die Erde werfen."
Sie blieb stehen und sah mir in die Augen, lachte dann. "Das muss ziemlich verrückt aussehen, denke ich. Aber ich erzähle es Ihnen, wenn es Sie tatsächlich interessiert." Während wir gemächlich nebeneinander herliefen, sprach sie von Tom, ihrem Freund. "Der beste, den ich je hatte." Ein großer Kerl war er gewesen, sehr sportlich und immer zu Späßen aufgelegt. Beide verband die Liebe zur Natur und zum Wandern, sie verbrachten ganze Tage draußen und oft auch Nächte. "Er verstand mich immer, er war für mich da und ich brauchte gar nicht groß etwas zu sagen. Tom spürte sofort, wie es mir ging und er tat sein Bestes, um mich aufzumuntern." In meiner Vorstellung entstand das Bild einer wahren Freundschaft – so einer, wie sie in Büchern beschrieben wird. In solchen Schmökern, die mir meine Eltern immer schenkten, kam so etwas oft vor – und ich liebte das. Aber ich hatte es vergessen – sonderbar, dass ich jetzt daran dachte. War ja auch lange her, ich bin etwas über dreißig. Aber die Frau sprach weiter, wie sie zusammen in Urlaub fuhren, und wie unzertrennlich sie waren.
Eigentlich hörte ich nur mit halbem Ohr hin, denn ich machte eine kleine Zeitreise in meine Kindheit. Freunde hatte es da gegeben – die von der Sorte, die sich zwar öfter zofften, aber sofort zusammenhielten wie Superkleber, wenn Erwachsene, vor allem Lehrer, ein Hühnchen mit ihnen zu rupfen hatten. Miteinander Spaß haben und dann zusammen rumhängen und in die Sonne blinzeln – so, wie die Frau das beschrieb, das kannte ich aus meiner Kinderzeit. Sonderbar, dass diese Dinge aus meinem Leben verschwunden waren und ich nicht einmal wusste, wann das passiert war. Ich hatte Bekannte, ich hatte in gewisser Weise Gleichgesinnte für Kneipen oder so etwas, ich hatte Frauen, klar – aber ich hatte keinen Freund. So einen wie diesen Tom, der wusste, wann man den anderen besser in Ruhe ließ oder ihm die Schulter leihen musste.
Da drangen die Worte meiner Begleiterin wieder völlig klar in mein Bewusstsein. "Sechzehn Jahre gingen wir durch dick und dünn zusammen, und vor ein paar Wochen ist er gestorben. An Krebs." Ich schluckte, wusste nun wirklich nicht, was ich sagen sollte – aber sie legte mir eine Hand auf den Arm. "Ist schon gut, junger Mann. Aber sehen Sie, dieser Weg hier war unsere Lieblingstour – solange er noch nicht so krank war. Hier gingen wir miteinander, wahrscheinlich viele hundert Mal. Und deshalb, verstehen Sie, gehe ich Tom zu Ehren hier und streue diese Blumen für ihn. Oder eigentlich für mich, denn er machte sich wohl nichts aus Stiefmütterchen."
Ich nickte, verstand was sie meinte. Und dann zog sie eine Brieftasche aus ihrer Jeans, kramte in den Fächern und hielt mir dann ein Foto unter die Nase. "Das ist Tom." Wahrscheinlich habe ich völlig bescheuert ausgesehen. Denn was für jeden anderen völlig klar gewesen wäre, war nicht zu mir vorgedrungen. Das Bild zeigte einen ziemlich großen, langhaarigen Hund, der fröhlich hechelnd in die Kamera grinste.
Die Frau lachte, klappte die Brieftasche zu. Und sprach weiter von Tom und den schönen Zeiten mit ihm. Als wir dann, nach gut anderthalb Stunden, wieder zum Parkplatz zurückkamen, war ich völlig gefesselt von den Schwänken, in denen dieser Hund die Hauptrolle spielte, und von dieser Freundschaft, zu der er fähig gewesen war.
"Werden Sie wieder hierher kommen?", fragte ich dann beim Abschied.
"Sicher, denn ich fahre nächste Woche zum Tierheim. So etwas wie Tom gibt es nicht wieder, aber vielleicht etwas anderes, ebenso Wundervolles, dem ich ein Zuhause geben kann. Das wäre wahrscheinlich in Toms Sinn gewesen, übersetzt man das ins Menschliche. Er mochte nicht, wenn ich traurig war."
Einen Moment lang starrte ich die Frau verwundert an, dann fummelte ich nach meinen Visitenkarten und gab ihr eine. "Da steht meine Telefonnummer. Nehmen Sie mich mit dorthin? Vielleicht gibt es mehr als ein Wunder in Hundegestalt."
Wahrscheinlich bin ich bei diesen Worten knallrot geworden, aber die Frau lächelte und sagte nur: "Wir könnten dann zusammen die Tour abgehen, also zu viert."
Das war vor vierzehn Tagen – und heute Morgen bekam ich einen Anruf. Ich habe ein besonderes Date im Tierheim heute. Und ich freue mich riesig darauf.
© Textbeitrag zur Kurzgeschichte "Blumen für Tom – Ein Wunder in Hundegestalt": Winfried Brumma (Pressenet), 2012.
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