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Adler. Foto: Lothar Seifert
Die Clans haben Schwierigkeiten. Das Wetter ist zu schlecht, um zu jagen und die wenigen Früchte, die in primitiver Weise angebaut werden, gedeihen zu lassen. Es gab auch Streit mit den Nachbar-Clans, man konnte sich nicht einigen über die freie Nutzung der Jagdgebiete. Möglicherweise wächst aus der Unzufriedenheit die Bereitschaft, die Regeln zu umgehen und man muss auf Angriffe vorbereitet sein. Es kommt zu viel zusammen und man hat noch keinen Weg gefunden, um mit den Gegebenheiten umzugehen.
Man hat sich um das Zelt desjenigen versammelt, der den Kontakt mit der Anderswelt hält und der am ehesten die Pfade der Geister gehen kann. Der Schamane hat ein mächtiges Totem, er ist verwandt mit dem großen Vogel, der über die Ebenen fliegt – dem Adler.
Er hat sich dieses Totem nicht ausgesucht, es ist mit geboren worden wie seine Stimme oder seine Gestalt. Seine Familie war seit jeher mit diesem Totem verbunden und das macht ihn zu dem, der er ist. Der Adler ist ein Botschafter zwischen den Welten, er ist nicht an die Erde gebunden und er verfügt über große Gaben. Nichts bleibt ihm verborgen, sein Blick geht durch Wolken, Erde und sogar durch die Steine.
Der Schamane beginnt mit dem Schlagen der Trommel, ein besonderer Rhythmus, der sich unmerklich verändert, dann statisch wird und an Eindringlichkeit zunimmt, bis alle wie in einem pochenden Herzen sitzen. Die Schläge errichten eine Wand zwischen dem Draußen und dem Hier und Jetzt. Er reicht die Trommel weiter an den nächsten, der mühelos die Schlagfolge hält. Jetzt streckt er seine Arme aus, legt den Kopf in den Nacken und lässt vor seinem inneren Auge den Adler entstehen. Er sieht ihn im Flug, nimmt seine Bewegungen wahr und überträgt sie auf seinen Körper. Seine Hände sind vorgestreckt wie die Krallen eines schlagenden Adlers, um seinen Körper spürt er den Luftstrom der schwindelnden Höhe.
Alles ist ihm völlig vertraut, der Körper seines nächsten Verwandten fühlt sich nicht fremd an – mit dem Blick auf den weit unter ihm liegenden Erdboden streckt er seine Flügel und krümmt seine Klauen. Die anderen Menschen um ihn herum sehen seinen sonderbaren Tanz, hören sein schrilles "Hiäääh", aber er nimmt nichts von alledem wahr. Er sieht mit den Augen des Adlers, fliegt mit den Schwingen des Adlers ... jetzt und hier IST er der Adler. Er fliegt weit, zwei oder mehr Tagesspannen. Dann sieht er sie, die Antilopen, die in großer Zahl über die Ebene kommen, sein Schatten liegt wie ein Handabdruck auf ihnen. Er hat die gleißende Sonne im Rücken. Dann spürt er einen Verlust, eine Trennung ... alles verschwindet vor den Augen und ein harter Schlag trifft den Schamanen im Rücken.
Der Adler hat ihn verlassen für diesmal, und völlig erschöpft ist er auf den Boden gestürzt ... man eilt herbei, um ihn zu seinem Lager zu bringen, aber das nimmt er nicht mehr wahr. Grenzenlose Erschöpfung hat Körper und Geist befallen, vor dem Morgen wird er nicht mehr zu jemandem sprechen.
Als die Sonne über die Berge kommt, öffnet der Schamane die Augen. Ein warmer Luftzug von der Ebene her streift durch das offene Zelt und legt sich auf sein Gesicht, das sich zu einem Lächeln formt. Und dann, als man gewahr wird, dass der Mann mit dem Adlertotem erwacht ist und sich der Clan vor seinem Zelt versammelt, gibt der Schamane die Botschaft seines Totems weiter. Nur noch eine kurze Spanne, vielleicht zwei oder drei Tage, dann kommt warmer Wind, der die Kraft der Sonne mit sich bringen wird. Und mit ihm kommen jagdbare Tiere, die das Gebiet wieder zum Leben erwecken werden. Der Adler hat es gesehen – und so wird es sein.
Ein Totem (es muss sich dabei nicht zwangsläufig um ein Tier handeln) gehört zu einem Menschen. Es begleitet ihn sein ganzes Leben und verlässt ihn nicht. Es handelt sich um eine Entsprechung oder Verwandtschaft – sie gehört zum Wesen des Einzelnen.
Es war kein guter Tag für die Frau. Schon der Morgen hatte Sorgen gebracht und die Angst verschlimmert, die durch die Nacht immer stärker geworden war. Ihr jüngstes Kind lag mit einem rätselhaften Fieber auf seiner Matte, und nichts hatte bisher helfen können. Die weise Frau hatte Wurzeln zerstampft, von der Sorte, die sie gab, wenn sie Fieber kurierte und die Schmerzen im Darm, die zuweilen die Stammesmitglieder quälten. Meist wurde es dann besser, außer vielleicht einmal bei ganz alten Menschen. Aber dieses Fieber hier war anders, es ließ sich nicht so einfach vertreiben.
Die weise Frau schüttelte mitleidig murmelnd den Kopf und suchte in ihren Kräutervorräten. Es gebe eine Pflanze, die vielleicht helfen würde ... stärker nämlich als die gewöhnlichen Mittel, die sie sonst herstellte, aber sie hatte keine in ihrer Hütte. Außerdem sollten sie frisch sein, die Blätter, denn dann wäre die Kraft am größten. Die Mutter erbot sich, das Kraut suchen zu gehen, sie wusste nicht, was sie brauchte, aber die Alte beschrieb die Pflanze sehr genau.
Die Frau gebot dem ältesten ihrer Kinder, auf das kranke Kleine Acht zu geben und machte sich auf, um das Kraut zu suchen. "Du musst da suchen, wo der Boden steinig wird", hatte die Kräuterfrau gesagt. Und so ging die Frau bergan, folgte dem Bachlauf und achtete sehr genau auf die Umgebung und die Pflanzen. Sie fand nichts, was dem beschriebenen Kraut auch nur entfernt ähnlich sah, das auffällig rote Blüten haben sollte.
Die Schatten waren ein gutes Stück weiter gewandert, als die Frau sich auf einen großen Stein sinken ließ und schwer atmend die Augen schloss. Sie versuchte, sich zu entspannen, um ihre Kräfte zu sammeln, damit sie weitergehen konnte. Sie wusste nicht, wie lange sie gesessen hatte und an ihr Kind dachte und die guten Mächte um Hilfe bat, als sie ein Geräusch hörte. Wachsam öffnete sie sofort die Augen. Nicht weit von ihr entfernt, am Ufer des Baches, stand ein Reh ... ein einzelnes Reh, das unverwandt zu ihr herüberschaute. Dann tat es etwas Seltsames: mit einem anmutigen Satz sprang es über den Bach, nur um sogleich wieder zurückzuhüpfen. Drei oder viermal tat es das, dann schaute es noch einmal zur Frau hin und lief davon.
Die Frau war aufgestanden. "Rehe laufen und springen den ganzen Tag, ich sollte gehen und weitersuchen." Aber es war sonderbar gewesen, wie das Tier immer wieder das Ufer gewechselt hatte ... und da erkannte die Frau, dass ihre Bitte um Hilfe gehört worden war. Sie watete durch das schmale Gewässer auf die andere Seite, als sie auch schon ein buntes Fleckchen ausmachen konnte, das zu Füßen eines Baumes lag. Die Blüten waren rot, so rot wie die Morgensonne. "Ich wäre umgekehrt, hätte das Reh mir nicht gezeigt, was ich tun muss", dachte die Frau. "Spring, geh weiter und schau, was auf der anderen Seite ist", hatte es gesagt – und so hatte sie die Blumen endlich gefunden.
Tage später, als es ihrer Kleinen wieder besser ging, erzählte die Frau der alten Weisen von dem Reh. Diese nickte und sagte: "Du hast einen Helfer gerufen, und es ist einer gekommen. Sei dankbar und denke mit Respekt daran, dann wird dir immer Hilfe und Rat zuteil, wenn du sie nötig hast."
Krafttiere begleiten uns für eine Zeit, so lange wir ihre spezielle Kraft oder Botschaft brauchen. Das kann von sehr kurzer Dauer sein, aber auch über einen größeren Zeitpunkt währen. Dabei kann es sich um jedes erdenkliche Tier handeln, das uns begegnet – im Traum vielleicht, aber auch in der Realität. Eine Eidechse auf einem von der Sonne erwärmten Felsen kann eine Botschaft für uns haben, ebenso wie ein Reiher oder eine Maus. Die Tiere haben Botschaften für uns, die aber nicht unbedingt leicht zu entschlüsseln sind.
Traditionell sind die verschiedenen Tiere mit Eigenschaften belegt, man sollte aber auch die persönliche Bedeutung nicht außer Acht lassen. Hirsche zum Beispiel gelten als stolz und stark, haben sie darüber hinaus für mich noch eine Bedeutung? Das sollte immer mit einbezogen werden. Wer mit den Krafttierkarten arbeitet, fragt sich zum Beispiel: "Wieso ziehe ich ausgerechnet die Mauskarte? Ich kann doch Mäuse nicht ausstehen." Das kleine Tierchen mit den Knopfaugen hat dazu vielleicht einiges zu sagen – möglicherweise etwas, das wir gerne nicht so genau wissen würden, das aber sehr wichtig für uns ist. Schon das Hinterfragen der ausgeprägten Abneigung könnte eine wichtige Botschaft sein.
Vielleicht begegnen einem Menschen seit einiger Zeit öfter Tiere, die er eigentlich nicht mag – so oft, dass es auffällt. Das muss durchaus nicht in der Stadt oder der freien Natur stattfinden. Oder man stößt immer wieder auf Bilder der betreffenden Tiere, in Büchern oder auch in Filmen. Das könnte als Botschaft gesehen werden – es wäre wahrscheinlich wert, darüber nachzudenken.
Zu weiteren Krafttiere Beiträgen: Leitartikel zur Serie | Der Steinbock | Der Tiger | Der Vogel | Der Wolf
© für den Beitrag "Was unterscheidet Totem und Krafttiere?": Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Fotos von Adler und Reh: Lothar Seifert
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