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Er fühlt sich ein wenig losgelöst, so als wäre er nur halb wach. Albert sitzt zusammengesunken auf dem Sitz in diesem Zug und sieht in die Fensterscheibe, hinter der sich ein geisterhaftes Echo des Abteils spiegelt. Er sieht dort das gelbliche Licht der Lampen, sieht sich selber, wie er auf das Glas starrt. Und er sieht diese drei Frauen, die etwas weiter vorne auf der anderen Seite sitzen, in dem ansonsten völlig leeren Abteil. Er will ihnen eigentlich nicht zuhören, aber er kann sie kaum bitten, ihr Geplapper einzustellen, weil er seine Ruhe haben möchte. Außerdem ist er zu müde, um aufzustehen. Also hört er schläfrig ihrem Gespräch zu.
Die drei alten Damen sprechen von einem Menschen, den sie zu kennen scheinen. Alle haben Handarbeiten bei sich, sie fahren wohl eine lange Strecke und wollen sich die Zeit vertreiben. Das Geratter des Waggons mischt sich mit dem, was er von der Damengruppe dort vorne hört: "So ein hübsches Kind, nicht wahr?" "Ja, das war er zweifellos, und auch ein sehr ruhiges." "Dann kamen diese Zeiten, ihr wisst schon ..." "Damals war aber noch alles offen, oder? Das weißt du doch genau ..." "Das war es wohl, aber er hat so vieles nicht gesehen." "Nicht sehen wollen, meinst du wohl ..." "Er hatte Pech, das Muster verlief anders."
Albert schließt gequält die Augen, er kann mit diesen sonderbaren Worten nichts anfangen. Draußen gibt es außer einigen Lichtreflexen nichts zu sehen – es ist so dunkel, als würde der Zug durch einen nicht enden wollenden Tunnel fahren. Er hätte gerne gewusst, wie spät es ist, aber er ist zu erschöpft, um den Arm, an dem er seine Uhr trägt, zu heben. Gestern, daran erinnert er sich, war kein guter Tag gewesen. Er hatte ein Vorstellungsgespräch gehabt und hatte sich darauf vorbereitet. Saubere Kleidung, Rasur, Mundwasser und eine Tasche mit seinen Unterlagen. Man hatte ihn warten lassen, dann war er vielleicht zehn Minuten im Büro gewesen. Länger hatte es nicht gedauert und er stand wieder draußen. Er hatte es nicht anders erwartet, denn morgen würde er achtundfünfzig werden. Außerdem war er zu lange raus aus dem Beruf ... und er hatte Herzprobleme.
Fast milde erstaunt denkt Albert an die Zeiten, in denen er gut verdient hatte, eine Familie ernährte und gesund war. Das war lange her – die Frau hatte ihn verlassen, der Kontakt zu den Kindern war abgebrochen. Aber hatte er es nicht so gewollt ...? Die Erinnerung will sich nicht einstellen – er weiß es nicht mehr. Der Abstieg kam mit der ersten Kündigung, denn die hatte er persönlich genommen. Wahrscheinlich hatte er seine Familie vergrault, aber auch daran erinnert er sich nicht mehr.
Die Stimmen der Alten dringen wieder verstärkt in Alberts Bewusstsein: "Er hat es an allen ausgelassen ..." "Das war doch irgendwie auch verständlich, nicht?" "Nun ja, aber er wusste genau, was er da machte, er ließ die Frau weinen, weil er es nicht konnte." "Das ist bei vielen so, das weißt du doch." "Er wollte nicht versagen." "Versagt hat er erst, als er zuschlug." "Ja, das ist richtig, und er hat sich bestraft dafür." "Trinken schmerzt." "Oh ja, das tut es." "Er hat völlig die Richtung verloren."
Albert horcht auf – es ist ihm, als sprächen die Weiber da drüben von ihm. Das ist ja lächerlich, die kennen ihn doch gar nicht. Sitzen nur zufällig im selben Zug nach ... ja, wohin fährt er denn nun eigentlich? Er kann sich nicht erinnern, das Abteil betreten zu haben, er weiß nicht einmal, wieso er eigentlich hier ist. Gestern Abend war er dann heimgekommen, hatte sich kaum die Treppe hochschleppen können. Dann war dieser Schmerz im Arm und in der Brust, der ihm seit Tagen zu schaffen machte. Er hatte die Mappe mit den Unterlagen fallen lassen und sich auf die Couch gelegt. Sonderbare Träume hatte er gehabt, von Türen und solchen Sachen. Dann war er hier in diesem Zug aufgewacht ... aber er hat keine Ahnung, wie er hierher gekommen ist.
Die Geschwindigkeit des Zuges verringert sich spürbar, so wie es ist, wenn eine Bahn abbremst, um in den Bahnhof einzufahren. Er hört Geräusche von weiter vorn, von den drei Frauen. Sie packen anscheinend zusammen. Müde dreht Albert den Kopf und sieht hin, beobachtet, wie sie ihre Wollknäuel – oder was das sonst wohl war – zusammenrollen und in Taschen verstauen. Eine lässt eine große Schere in die Tasche fallen, sieht dann zu ihm herüber und lächelt.
Der Zug steht jetzt still und Albert hat Angst, aber es scheint, als endet die Fahrt hier. Schwankend hält er sich an einer der metallenen Lehnen fest, als die Frauen zu ihm treten. Die letzte, die mit der Schere, fasst ihn am Arm und sagt freundlich: "So, jetzt ist es Zeit. Komm mit, es ist Zeit zum Aussteigen." Und da weiß er, welcher Zug das ist, er weiß auch, wer die drei alten Frauen sind. Und er ist eigentlich nicht unzufrieden damit. Albert kann sich sowieso kaum noch an etwas erinnern, das vor dieser Zugfahrt liegt – und so soll es wohl auch sein. Draußen wird es hell.
© "Alberts Zugfahrt: Hier endet die Fahrt" – eine Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2012.
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