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Herr Bergleitner zog langsam, fast zeremoniell, seine Jacke aus und hing sie im Flur seines kleinen Hauses an die Garderobe. Der Essensgeruch, der aus der Küche kam, war angenehm, wenn auch nicht mehr so appetitanregend wie früher. Es kamen eher Fertiggerichte oder kalte Salate aus der Packung auf den Tisch. Herr Bergleitner schmunzelte bei dem Gedanken ein wenig, denn er wusste, wann es an der Zeit war, Opfer zu bringen.
"Anni, ich bin da!", rief er in Richtung Küche, wedelte mit dem Fähnchen, sozusagen. Anni erschien kurz auf der Bildfläche, zog die Stirn in Falten und lächelte verkrampft zu ihrem Ehemann hinüber. Bergleitner lächelte breiter, ihm gefiel, was er sah – wenn auch aus anderen Gründen, als seine Frau vielleicht angenommen hätte. Die Gute trug seit einigen Tagen eine neue Frisur und eine intensivierte Haarfarbe. Ihr Augen-Make-up hatte wohl ein wenig unter den Küchendünsten gelitten, denn der Lidschatten war ziemlich weit in die äußeren Augenwinkel und das untere Lid gewandert. Die unglückliche silbergraue Farbe gab Anni das Aussehen eines greisen Waschbären, denn der Lidstrich war ebenfalls etwas verrutscht.
Bergleitner mochte das absolut lächerliche Aussehen seiner Frau, es war für ihn so etwas wie ein Barometer. Er setzte sich fröhlich und in bester Laune an den Küchentisch, denn aus Gründen der Zeitersparnis wurde nicht mehr im Esszimmer gegessen. Anni hatte sehr wenig Zeit dieser Tage für den Haushalt und dergleichen, was Bergleitner noch immer in Entzücken versetzte. Noch vor wenigen Wochen war alles ganz, ganz anders gewesen. Seine Ehehälfte hatte da noch eher gewöhnlich und möglicherweise hausbacken, dafür aber stilsicherer ausgesehen. Gar nicht zu vergleichen mit diesen hautengen Hosen und den Blusen mit großem Ausschnitt. Sie sah jetzt aus wie eine in Stoff gewickelte Seekuh – und ihr Gatte war hingerissen, denn das bedeutete, dass sein Plan nach wie vor funktionierte.
Ebenso nahm sie ihn gar nicht wahr – ihn, der für diese verrückten Klamotten und den viel zu jugendlichen Haarschnitt bezahlte – sie redete kaum mit ihm. Es war, so wie Bergleitner dankbar dachte, das Paradies. Denn vor diesen Veränderungen hatte Anni sehr viel mit ihm geredet. Sie hatte es praktisch pausenlos getan, von dem Moment an, wenn er das Haus betrat. Ihre Kommunikation bestand aus drei großen Posten, die sie in mehreren Variationen zum Besten gab. Das waren ständiges Gejammer, ständige Vorwürfe und natürlich die ständigen Beleidigungen seiner Person. Das im Esszimmer eingenommene sorgfältig bereitete Essen wurde damit beschallt, und die dämlichen Fernsehsendungen, die danach angesehen wurden, hatten ebenfalls diese monotonen Arien als Hintergrund. Sobald Bergleitner auch nur ein Sofakissen leicht umpositionierte, ging eine erstaunliche Wortflut auf ihn nieder. Das zunichte machen der Hausarbeit und der täglichen Plackerei des Saubermachens war unter Strafe gestellt im Hause Bergleitner. Aber das war nun Vergangenheit ... Anni bemerkte so etwas kaum mehr.
Bergleitner hatte ein Hobby, er sammelte Münzen. Das war jahrelang Gegenstand ihrer Nörgeleien gewesen, denn ein Mann, der mit irgendwas beschäftigt war, überhörte womöglich die Kanonaden seiner Ehefrau. Außerdem brachte es Unordnung mit sich und brauchte viel zu viel Platz. Jetzt, da die Zeit der unordentlichen Kissen, des Mikrowellen-Essens und der Wortkargheit angebrochen war, wurde er manchmal sogar gefragt, ob er nicht wieder einmal seine Sammlung sichten wolle. Es war tatsächlich, wie Bergleitner wiederholt dachte, das Paradies. Er liebte Annis kurz angebundenen Kommentare, die sehr selten kamen, er liebte ihr lächerliches Aussehen und er liebte das kleine Notebook, das er ihr geschenkt hatte und mit dem sie sich meist in das Schlafzimmer begab, wenn er daheim war – und von dem er wusste, dass es ihre Aufmerksamkeit den ganzen lieben Tag fesselte.
Es wurde langsam Zeit, dachte er – und richtig ... Anni fragte hoffnungsvoll, ob er noch irgendetwas brauchte. Liebevoll lächelnd schüttelte Bergleitner den Kopf und winkte ab, er saß schon vor seinen numismatischen Zeitschriften. Anni rollte nun in ihre Kemenate, wie er grinsend dachte, und warf ihr Notebook an. Und sie würde auf gar keinen Fall, so wie früher, jede halbe Stunde keifend fragen, wo er denn bliebe – oh nein, Anni würde die Zeit vergessen und mit verträumtem Lächeln und bröckelndem Make-up eingeschlafen sein.
Herr Bergleitner beglückwünschte sich zum vielleicht tausendsten Male zu seinem genialen Einfall. Und morgen würde er "Fabio" von "Flirty Dreams", dem Internetportal für Singles – oder diejenigen, die es gerne wären – die fällige Ausgleichszahlung überweisen, so wie er das jeden Monat tat seit einiger Zeit. Schließlich, so sagte sich Bergleitner, gehörte schon ein gewisses Maß an Disziplin dazu, Frauen wie Anni in romantische Verzückungen fallen zu lassen, die ihre ganze Zeit beanspruchten.
© "Ein genialer Einfall": Ehepaar-Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Illustration: Thomas Alwin Müller, littleART.
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