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Natürlich wusste ich, dass es geschehen würde – es war nicht anders zu erwarten. Ich hatte diesen irrationalen Gedanken, dass es vielleicht niemals so weit kommen würde ... obwohl das Urteil schon längst gefällt ist. Man weiß, dass etwas unausweichlich ist, aber man verdrängt es, so gut es eben geht.
Und es geht nur sehr schwer, denn hier im Todestrakt des Gefängnisses kann man sich nicht wirklich belügen. Die Einförmigkeit der Tage – aufstehen, Frühstück, die Runden machen – diese falsche Normalität legt ein dickes Polster um die Nervenbahnen. Jedenfalls so lange, bis man das Papier vor die Augen kriegt, auf dem es schwarz auf weiß steht: Exekution am soundsovielten des nächsten Monats. Ich bin noch nicht lange hier, und ich hatte gehofft, dass es noch ein wenig dauern würde ... mein Rendezvous mit dem Abgrund. Hierher wollte ich nicht, mein Gott, wer will das schon. Aber es ist nun einmal so gekommen – ich konnte mich nicht wirklich dagegenstemmen – es ist wohl mein Schicksal. Ein Mann in meinem Alter, der von solchen Dingen spricht, vielleicht ein klein wenig davon besessen ist ... das klingt nicht normal. Aber jeder versteht, dass die besonderen Umstände besondere Gedanken zur Folge haben.
Die anderen hier sind auch ein wenig vom Dunkel geküsst, keiner bleibt hier ganz der Mensch, der er einmal gewesen ist. Viele Ältere machen auf taff, geben den ganz harten Burschen, an den nichts herankommt – nicht einmal der Tod. Aber in die Träume, die sie haben, kann niemand hineinsehen ... das bleibt ihr Geheimnis. Vielleicht träumen sie von diesem Stuhl, vom letzten Gang, erleben das immer und immer wieder in ihren Nächten. Vielleicht hören sie auch die Schreie, die hinter den Türen des Hinrichtungsraumes bleiben und die nicht nach draußen dringen. Wer weiß das schon, wer will das auch wissen?
Ich frage mich manchmal, ob es hier überhaupt jemanden gibt, der keine Angst hat ... ich glaube, dass sogar der Geistliche vor Schiss ganz steif geht, wenn er den Gang entlangkommt. Dieser blasse Kerl wirkt irgendwie vage, so als wäre er ein Statist. Er kann noch so freundlich grüßen und nicken, er kommt einem vor wie ein Gespenst aus einer anderen Welt. Ich kann nichts damit anfangen, aber seine Anwesenheit wird nun mal oft gewünscht.
Mich nennen sie hier Babyface, weil ich der Jüngste bin. Irgendwie nehmen alle Rücksicht, aber das will ich eigentlich gar nicht. Es war meine eigene Entscheidung, die mich hierher gebracht hat ... oder jedenfalls rede ich mir das ein. Es wird verdammt schwer für mich, wenn ich das Blechgeschirr in Augenschein nehme und das Fenster ansehe ... den kleinen Raum mit meinen Augen abtaste, um nicht hochsehen zu müssen. In den letzten Tagen sehe ich in den Augen, die meine fixieren, unbarmherzig fixieren, so etwas wie Mitleid und das bringt mich völlig durcheinander.
Ich lasse die Decken fallen, die ich auf dem Arm habe, und die Stimme des Kerls sagt: "Ist gut Babyface – mach Dir keinen Kopf." Dann lacht er und feixt ein wenig – aber ich weiß, dass er es nicht böse meint. Normal ist der nicht so freundlich, klar – Freundlichkeit ist hier im Todestrakt auch nicht unbedingt üblich. Wenn sogar der hier eine weiche Sekunde kriegt, wenn er mit mir zu tun hat, dann wird klar, dass man mir ansieht, wie beschissen es mir geht.
Nun ist es verdammt noch mal so weit. Ich habe nicht geschlafen in dieser Nacht, ich hatte schreckliche Träume, an die ich mich nicht erinnere ... nur die Angst spüre ich noch. Die bleibt mir auch und lähmt mich auf eine böse Weise. Es ist, als hätte ich zu viel getrunken, aber meine Sinne sind überscharf. Ein letztes Mal sehe ich in seine Augen, schäme mich und verstehe nicht, warum. Man kommt uns holen und ich tue alle Handgriffe, als wäre ich ein Roboter. Der Kerl grinst auf eine sonderbare Weise, so mit einem Mundwinkel. Blass wie ein Laken ist er, aber ich glaube, dass ich nicht viel anders aussehe. Und das wird mir bestätigt, denn der Chef der Wachmannschaft sieht mich prüfend an, bevor er das Kommando zum Gehen gibt.
Es sind nicht mehr als drei Minuten, bis die Stahltür vor uns auftaucht, die einen unserer Gruppe fressen wird. Er wird nicht ein zweites Mal hindurchgehen. Ich schon, aber werde ich ein anderer sein – kann man denn der Gleiche bleiben, der man war, wenn man wieder herauskommt? Mir wird übel, aber als ich als Letzter durchgehen will, spüre ich die Hand meines Vorgesetzten auf der Schulter.
"Sie machen das schon, mein Junge. Ist Ihre erste Hinrichtung, ich weiß. Sie werden sich dran gewöhnen, wissen Sie." Der alte Mann sagt es auf eine seltsam leere Weise. Ich sehe in seine Augen und weiß, dass er lügt. Und dann muss ich hinein zu meiner Verabredung mit dem Tod. Zur ersten von vielen.
© "Die Angst vor der Hinrichtung: Verabredung mit dem Tod": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt eine Szene aus einer Hinrichtung, USA um 1900; Lizenz: gemeinfrei.
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