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"Wie Schnee", sagt die Hebamme und hält das Kind hoch, seine Haut ist hell, so hell wie der Überzug der Bettwäsche, in dem die erschöpfte Mutter liegt, und sie streckt die Arme nach dem Kleinen aus, weil sie glaubt, dass dies so sein muss. Sie ist so matt, vor ihren Augen spielen violette und grüne Kreisel und ihr Körper ist seltsam schlaff und scheint ihr vorübergehend nicht zu gehören. Das in Tücher gehüllte Kind ist leicht, so federleicht, dass sie es kaum spürt, als sie den tiefen, schwarzen Tunnel der Erschöpfung hineinfällt. "Schneewittchen", denkt sie noch – und dann ist sie weit fort.
"Wie Schnee", sagt die Großmutter anerkennend, als sie die Wäsche des neuen Enkels anfasst. Sie ist sehr eigen mit solchen Dingen, immer achtet sie auf so etwas. Die Mutter des Kleinen hat hart gearbeitet, um dem Weißheitsideal der Schwiegermutter nahe zu kommen. Sie mag bunte Sachen, aber jetzt, da sie die Alte besuchen will mit dem Kind, der erstgeborenen Tochter, soll die Alte eine Freude haben. Und vor allem soll sie freundlich sein, denn das ist sie selten. Aber jetzt beklagt sie sich nicht, sie nimmt das Kleine hoch und wiegt es. Die Mutter war sich nicht sicher, ob man ihr "nur ein Mädchen" übel nehmen würde, doch die Schwiegermutter scheint erfreut und glücklich. "Vielleicht mag sie Jungen gar nicht", denkt die junge Frau bei sich. "Vielleicht hat sie ihren Sohn so streng erzogen und gegängelt, weil sie keine Männer leiden kann." Dieser Gedanke lässt sie die Augen aufreißen und die Alte beobachten – die strahlt den Säugling an und scheucht den Vater des Kindes, ihren Sohn, mit einer ungeduldigen Handbewegung weg.
"Wie Schnee", denkt die Frau, als sie sich im Spiegel anschaut. Eben hat sie die Türe geschlossen, hinter den beiden Beamten, die ihr gesagt haben, dass ihr Mann nicht wiederkommen wird. Der Infarkt hat ihn gefällt wie einen Baum, bei der Arbeit im Wald, die er so mochte – jetzt ist er tot und sie sieht in den Spiegel, der im Flur hängt, und wundert sich, dass sie das Spiegelbild erkennt. "Kann man dennoch wie man selber aussehen, wenn sie kommen und sagen, dass man Witwe ist", denkt sie. Ihr lakenweißes Gesicht sieht kaum aus wie ihr eigenes, es könnte eine völlig Fremde sein, die ihr da entgegensieht. Bald wird das Kind von der Schule nach Hause kommen, und sie sollte sich um das Essen kümmern. Aber ihre Füße tragen sie nicht fort von diesem Spiegel und in die Küche – es ist ihr, als ob sie warten müsse, bis es läutet und die Kleine mit ihrem Ranzen vor der Türe steht. "Schneewittchen", denkt sie. "Mein Gott, Schneewittchen."
"Wie Schnee", sagt die Mutter und deutet auf das gleißende Sonnenlicht, das die hellen Fliesen des kleinen Balkons leuchten lässt. Das sagt sie zu der Tochter, die gerade das Bad verlassen hat. Das Mädchen trägt kaum etwas am Leib, dafür aber sehr viel Make-up. Die Mutter sagt nichts, es würde Streit geben und davon hatte sie genug in den letzten Monaten. Das Kind, das Mädchen, ist ihr völlig entglitten – es ist kein Kind mehr, es hat den Körper einer Frau. "Dreizehn Jahre", denkt die Frau und versucht in die Vergangenheit zu blicken, um das kleine Mädchen zu sehen, ihr Schneewittchen. Sie kann es kaum noch erkennen, das Kleine – das Bild verschwimmt und darüber schiebt sich dieses Mädchen mit den umrandeten Augen und dem Metall im Gesicht. Sie hat das nicht erlauben wollen, aber das Kind hat die drei Ohrlöcher von ihrer Freundin machen lassen. Aus Angst vor Infektionen hat die Mutter es dann doch erlaubt, die Steinchen an der Braue, in der Zunge und auch am Nabel. "Wie Schnee", murmelt sie dann noch einmal und das Mädchen lacht, lacht verächtlich und zuckt die Schultern. Es war schwer nach dem Tod des Vaters – das Kind war oft bei der Großmutter und später dann alleine, bis die Frau von der Arbeit kam. Der Schlüssel hing dem Kind um den Hals. Die Wohnungstüre geht, das Mädchen ist fort.
"Wie Schnee", sagt die Frau und betrachtet das Gesicht ihres Kindes, während sie ihm den kleinen durchsichtigen Beutel, den sie im Jugendzimmer gefunden hat, vor das Gesicht hält. "Schnee – das ist kein Schnee, Mann, das ist nur ein bisschen was zum aufpeppen. Schnee ist was für alte Leute, für die Reichen, die koksen, was sie können und trotzdem nicht krank sind oder so." Dann lacht sie, lacht auf eine sonderbare Weise – so als würde sie gezwungen dazu. Die Mutter sieht an ihrer Tochter vorbei, sie sieht zur Türe hin, als stünde die Sekunde, in der die Beamten kommen und ihr sagen, dass ihr Mann tot ist, jetzt gerade bevor. Sie fragt sich, was geschehen ist über die Jahre. Und dann denkt sie, dass Schneewittchen im Wald umhergeirrt ist und etwas gefunden hat. Aber es sind nicht die sieben Zwerge, es sind Ungeheuer, mit denen sie zusammen ist. Dann hört sie das Krachen der Türe – das Mädchen ist fort, mit dem kleinen Beutel, den sie der Mutter aus der Hand genommen und eingesteckt hat.
"Wie Schnee", denkt das Mädchen beim Anblick der weißen Blumen auf dem Sarg, der gerade hinuntergelassen wird. "Wer ist jetzt das Schneewittchen?", sagt sie halblaut und mit einer Stimme, die sich mühsam aus der Wasserwand der Tränen hervorquält. Sie war lange nicht daheim, bei der Mutter. Es war nicht mehr gegangen irgendwann, sie musste weg. Sie konnte die Augen der Mama nicht mehr ansehen, sie konnte die fahrigen, kleinen und hoffnungslosen Bewegungen nicht mehr ertragen, sie musste vor dem fliehen, was sie nie aussprach, die Mutter. Aber sie hatte immer die neue Adresse geschickt – immer. Nur die Handynummer nicht, sie hätte nicht gewusst, was sie sagen sollte. Und nun hatte sie es erfahren, dass heute die Beerdigung war. Fast dreißig ... fast alt ist sie.
"Wie Schnee", denkt das Mädchen und betrachtet ihr Gesicht im Spiegel. Sie versucht, etwas von dem zu sehen, was gewesen ist, ein Stückchen vielleicht so wie Weihnachten, als sie klein war oder sonst etwas. Aber da ist nichts, es gibt keine Erinnerungen, die sie zulassen könnte. Sie wird jetzt gehen, sie hat einen "Termin", wie sie das nennt. Ein sonderbarer Kerl muss das sein, er hat so komisch gesprochen am Telefon. Aber was solls – Geschäft ist Geschäft und keine Runde Ponyreiten. Sie lacht hart und kratzig auf, als ihr die Doppelsinnigkeit des Gedankens aufgeht.
"Wie Schnee", denkt der Beamte, als er das weiße Gesicht der jungen Frau sieht, die ein Mann, der mit seinem Hund unterwegs war, am Waldrand gefunden hat. Bleich und großäugig starrt sie in den Himmel, der Mund steht offen wie zu einem Schrei. Es ist kalt geworden, und der Boden ist gefroren, deshalb wurde sie wohl hier abgelegt vor einigen Tagen. Der Mediziner wollte sich noch nicht festlegen. Der Mann kann den Blick nicht von der Toten lösen, er versucht, sie sich als Menschen vorzustellen, der noch atmet. Nuttenklamotten, knapp und ein wenig schäbig, das schwarze Haar fransig und ohne einen richtigen Schnitt. Wahrscheinlich süchtig nach irgendwas, aber das wird man feststellen. Sie ist schlank, sehr schlank, dünn eigentlich. Zu dünn. Kann noch keine dreißig sein, dem Gesicht nach. Aber sie sehen im Tod immer jünger aus und glatter – er nimmt vielleicht viel von den Zeichen weg. Aber trotzdem, die hier sieht aus, als wäre es immer Winter gewesen für sie.
© "Kein Sommer für Schneewittchen": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt ein Detail aus dem Aquarell "Mädchen in Winterlandschaft" von Albert Anker, Lizenz: Public domain.
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