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Sie döst im Schatten, reagiert nicht auf die lauten Geräusche im Hof, die Kreissäge oder das Knallen, wenn Bretter aufeinander geworfen werden. Seit Tagen ist sie so, verkriecht sich, obwohl sie für jeden sichtbar mit geschlossenen Augen in der Sonne liegt. Fliegen umsurren sie, es riecht nach Verwesung. Der strenge Geruch kommt von den Fleischfetzen, die auf der Erde liegen und die vergammeln, weil sie nicht angerührt worden sind.
Owen flucht vor sich hin, stellt die Kreissäge ab und wirft die dicken Schutzhandschuhe auf die frisch geschnittenen Bretter. Er sieht zu ihr hinüber, verengt dann die Augen und spuckt geringschätzig aus. Als er zum Wasserkrug geht, der im Schatten steht, damit die verdammte Brühe wenigstens annähernd trinkbar bleibt in der Hitze, holt er aus und versetzt dem Gitter, hinter dem sie liegt, einen heftigen Tritt. "Miststück", murmelt er vor sich hin und greift nach dem Wasser. Hinter ihm taucht ein anderer Mann auf, er beobachtet Owen eine Weile, bevor er das Wort an ihn richtet.
"Ich habe dir gesagt, dass das nichts wird. Niemand hat Interesse dafür. Außerdem ... sie sieht nicht besonders gut aus, weißt du." Owen fährt herum und faucht: "Ich weiß, was du gesagt hast und ich weiß, wie das verdammte Dreckstück aussieht. Selber schuld – ich hab alles hineingeworfen, und Wasser ist auch drinnen. Vielleicht ist sie krank, könnte ja sein."
Der andere Mann zuckt die Schultern, wirft noch einen Blick auf das, was ausgestreckt hinter dem metallenen Flechtwerk liegt und dreht sich dann um. Er beginnt, die Bretter zu zählen und zu markieren. Owen lehnt an der Wand des Hauses, nimmt hier und da einen Schluck. Er hat mittlerweile das Hemd ausgezogen, sein Oberkörper glänzt vor Schweiß. Die Verandatür öffnet sich und ein Mädchen von etwa 14 oder 15 Jahren kommt heraus. Sie hat eine große Schüssel mit Gemüse dabei und stellt sie neben den roh gezimmerten Tisch, der etwas wacklig an die Hauswand gelehnt steht. Als sie den Hocker zurechtrückt, ruft Owen ihr etwas zu.
"Alles klar, Billie? Sieh dir mal unser Prachtstück da an, sieht aus wie ein verlauster Teppich, oder?" Dann lacht er laut und schiebt sich den Hut ins Genick. Das Mädchen schenkt weder ihm noch dem Zwinger einen Blick. Es zuckt mit den Schultern und sagt nur: "Ich muss das Gemüse putzen, Dad." Dann legt sie Bohnen, Kartoffeln und Wurzeln auf den Tisch, setzt sich und beginnt mit der Arbeit. Ruhe senkt sich kurz über den Hof, nichts ist zu hören – außer dem leisen Geräusch, das ein Schälmesser macht. Aber es währt nicht allzu lang – plötzlich knallt die Tür des Pickups, der im Hof steht, und Owen schreit dem Mädchen zu: "Hump und ich fahren in die Stadt. Sag Mom, dass wir zum Abendbrot zurück sind. Und mach deine Arbeit ordentlich, Billie!" Dann wird der Motor angelassen und der staubige Wagen ruckelt aus dem Hof heraus.
Sobald nichts mehr von dem Pickup zu sehen ist, steht Billie auf. Sie vergewissert sich, dass niemand mehr da ist und geht zu der Tür, hinter der das Fliegengesumm am stärksten ist – vor den Metallmaschen geht sie in die Hocke und zischt leise und auffordernd. Und plötzlich öffnet sie die Augen, golden und klar. Was auf den ersten Blick kaum von dem rötlich goldenen Sand zu unterscheiden war, kommt nun in Bewegung. Fasziniert beobachtet Billie, wie die große Katze aufsteht und langsam Pfote vor Pfote setzt, ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen. Glücklich murmelt Billie vor sich hin, flüstert dummes Zeug und sieht in das klare Gold hinein, versinkt im Blick der Berglöwin wie in einem tiefen Brunnen.
Das Tier ignoriert alle Menschen, bis auf Billie. Seit sie in die Falle Owens geraten war und hier gefangen gehalten wurde, hat sie meist die Nahrung verweigert und ebenso die Bewegung ... bis auf die Momente, in denen das Mädchen vor dem verstärkten Zwinger erschien. Vom ersten Moment an gab es eine Art Verständigung zwischen Puma und Mensch – etwas, das keine Worte und Laute brauchte. Owen hatte darauf gehofft, für die Katze einen Käufer zu finden. Als sich das schlecht anließ, bot er den jungen Farmern der Umgebung einen Abschuss an. "Zwanzig Dollar und du kannst dem Mistviech, das Lämmer reißt, eine Kugel durch den Schädel jagen und das Fell deinem Mädchen schenken." Bis jetzt hatte sich niemand darauf eingelassen, aber Owen hoffte auf einen verweichlichten Städter, der gerne einmal einen Puma töten wollte, um sich damit dicke zu tun. Das war nicht legal – aber niemand würde sich darüber aufregen.
Billie hatte noch nicht ein einziges Mal versucht, die Katze zu berühren – nicht Angst hielt sie davor zurück, sondern Respekt. Auch jetzt beschränkt sie sich auf den Blickkontakt, den die Silberlöwin gelassen erwidert. Sie fängt an, sich zu putzen – nicht anders als eine der Stallkatzen. Aber das Mädchen beobachtet mit angehaltenem Atem die trotz des geschwächten Zustandes des Tieres nicht zu übersehende Eleganz der Bewegungen, die Lässigkeit und spürbare Kraft. Billie hat einiges riskiert, um der großen Katze zu helfen. Die Truhe im Keller ist vollgestopft mit Fleisch von der letzten Schlachtung. Owen hat vor einigen Wochen das gemästete Schwein geschlachtet – außerdem geht er jagen.
Bis jetzt hatte niemand gemerkt, dass Wildfleisch fehlt. Er hält den Umgang mit den Vorräten für Weiberarbeit – und Mom kriegt nie etwas mit. Billie hat das Fleisch in ihrer Kammer auftauen lassen und nachts durch die Lücke zwischen Zwingerwänden und Dach gestopft. Und das Tier hat es jedes Mal angenommen, weil es von ihr kam. Billie ist so glücklich darüber, dass sie die Bestrafung riskiert. Owen kann verdammt hart zuschlagen, wenn er wütend ist. Das wissen sie und Mom sehr gut. Billie ist es egal, wenn die beiden streiten – sie sagt Dad zu Owen, aber er ist nicht ihr Vater. Der starb vor fünf Jahren. Billie hasst Owen nicht, er ist ihr ebenso gleichgültig wie ihre Mom, die langsam aber sicher alles vergisst. Das liegt an dem Zeug, das Owen heimlich im hinteren Teil des Schuppens brennt ... das ist auch verboten, aber viele kommen vorbei und kaufen etwas davon.
Owen wird zum Abendessen nicht zurück sein, er und sein Kumpel tauchen frühestens vor Mitternacht hier auf. Mom liegt seit heute Morgen im Bett und grunzt vor sich hin – die beiden hatten gestern einen sehr lebhaften Abend. Billie hat die Schnauze voll davon. Die Sonne beginnt langsam zu sinken, und das Mädchen geht leise ins Haus zurück. Sie drückt behutsam die Klinke zum Schlafzimmer hinunter und wirft einen Blick hinein. "Mom?" Aber Mom antwortet nicht, sie schnarcht und stößt mit jedem Heben ihrer Brust einen Schwall übel riechender Luft aus ... es riecht fast wie im Schuppen, wenn Owen beim Brennen ist.
Befriedigt schließt Billie die Tür und geht weiter in ihre Kammer. Den großen Armeerucksack hat sie gestern gepackt. Und dann löst sie eine Bodendiele und fischt einen kleinen Karton heraus. Viel Geld ist es nicht, aber sie hat jeden Cent gespart, den sie für die kleinen Jobs bekommt. Owen weiß nicht, wie viel sie wirklich bekommen hat für Rasenmähen, Fensterputzen und Babysitten in den letzten vier Jahren. Er grapschte gierig nach dem Geld, das sie ihm ablieferte. Das meiste wanderte in den kleinen Karton – und es wird reichen für eine Busfahrkarte. Sie wird einige Meilen über die Felder laufen müssen, bis sie die Überlandbusstation erreicht, aber das macht nichts. Diesen Weg ist sie in Gedanken schon viele Male gelaufen und fiebert ihm entgegen.
Als Billie wieder draußen ist, liegt der Hof in dämmrigem Licht – sie hat keine Angst vor der aufkommenden Dunkelheit. Wenn Owen besoffen heimkommt, stolpert er hinauf zu Mom und wacht vor sieben oder acht Uhr nicht auf. Bis dahin ist Billie weit weg – sehr weit weg.
Die Katze steht am Gitter, ihre Augen leuchten geheimnisvoll in dem trüben Licht und sie wartet. Es ist, als ob sie wüsste, was bevorsteht. Billie setzt den Seesack ab und beginnt wieder mit dem leisen, beruhigenden Gemurmel. Sie sieht dem Pumaweibchen unverwandt in die Augen, während ihr Arm sich streckt und ihre Hand das Schloss öffnet. "Schau einer Raubkatze nie in die Augen, das mögen sie nicht, die reißen dir sofort die Kehle auf." Das war so ein Spruch von Owen, aber der hatte keine Ahnung. Billie tritt zurück und zieht die Tür auf, geht dann wieder in die Hocke. Es fühlt sich einfach richtig an.
Die Katze verharrt einige Sekunden, aber dann setzt sie sich in Bewegung. Kurz vor dem Mädchen wartet sie, geht nicht weiter. Billie weicht etwas zurück, lockt und flüstert. "Geh, meine Schöne, hau ab. Du bist frei – und ich bin es auch. Geh schon."
Und dann geschieht etwas, das Billie die Kraft geben wird, die sie für ihren schwierigen Weg braucht, auch wenn sie es jetzt noch nicht weiß. Jetzt fühlt sie nur dieses Wunder, das ihr widerfährt, dieses Geschenk, das sie nicht erwartet hat und das sie zitternd annimmt. Denn die Silberlöwin verlässt ihr Gefängnis langsam – so, als wäre es ihr durchaus nicht so eilig. Aber dann spannen sich ihre Muskeln. Doch bevor diese Ansammlung von Muskeln, diese herrliche Schöpfung, die zum Springen und Jagen gemacht ist, den ersten Sprung tut, drückt sie sich für einen atemlosen Moment an Billie, so wie es eine Hauskatze tun würde.
Ein kehliger, sehr dunkler Laut wie ein schnarchendes Schnurren ... dann springt ein lohfarbener Schatten in langen Sätzen aus dem Hof hinaus. Kurz darauf verlässt das Mädchen zielstrebig und mit raschem Schritt ebenfalls den Hof, den Seesack quer über dem Rücken hängend. Einen Moment sieht sie in die immer schneller fallende Dunkelheit zu den Bergen hinauf – dahin, wo die Berglöwin hingelaufen ist. Sie hebt die Hand noch einmal zum Gruß ... dann geht sie entschlossen in die entgegengesetzte Richtung.
© "Berglöwinnen – Befreiung aus dem Gefängnis": Erzählung von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Die Abbildung zeigt einen Puma; Urheber: Ltshears (Quelle: Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei).
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