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Kleine Kinder, die zu Weihnachten einen neuen Spielzeug-Bausatz geschenkt bekommen, reißen in der Vorfreude oft sofort die Verpackung auf. Wer dann die Teile planlos und falsch zusammensetzt, wirft das "Kunstwerk" enttäuscht in die Ecke oder nimmt es nie wieder in die Hand. Besonders frustrierte und ungeduldige "Ingenieure", die den eigenen Misserfolg nicht verkraften, beschimpfen dann auch noch andere Kinder oder machen diese für den Fehlschlag verantwortlich.
Bei Erwachsenen gibt es so etwas nicht, meinen Sie? Weit gefehlt, denn unter Politikern, Managern oder Firmeninhabern gibt es ebenfalls planlos und blind agierende Aktionisten. Nur, dass zum Schluss Mitarbeiter auf die Straße oder sogar Menschenleben aufs Spiel gesetzt werden. Projekte oder Gesetze werden zu schnell beschlossen, und mit der Produktion oder Umsetzung wird möglichst vorgestern begonnen.
Wegen Schlamperei in der Planungsphase muss technisches Equipment für viel Geld nachgebessert werden, und die auf den letzten Drücker beschafften Dokumente und Genehmigungen lassen auch nichts Gutes ahnen. Kurz bevor Kontrollen ins Haus stehen, wird brisantes Aktenmaterial geschreddert, die Firma am heimatlichen Standort schnell aufgelöst oder ins Ausland verlagert. Profitgier oder Machtgedanken stehen dabei nicht selten im Vordergrund.
Blinder oder kopfloser Aktionismus bedeutet soviel wie "Tun um des Tuns willen", wenn möglich ohne irgendein erkennbares Resultat, ein zielloses Handeln. Das kennen wir im Kleinen ebenso wie im Großen – es kann eine Hausfrau treffen, welche sich angesichts der Arbeitshäufung völlig verzettelt, die Kinder und den Ehepartner anschreit und blindwütig drauflos tobt ... um am Schluss dann todmüde auf das gleiche Chaos wie vorher zu sehen. Aber – und das scheint der Hauptgrund für den unsinnigen Energieverbrauch zu sein: es wurde etwas getan. Ob das Ganze nun Sinn hatte oder nicht, ist nicht so wichtig – es ging um die Aktion an sich.
Über dieses Beispiel kann noch gelächelt werden, obwohl die Familie sich nicht besonders gut fühlt dabei. Denn wenn die Kraft völlig nutzlos verbraucht wurde, muss ein Schuldiger gesucht werden, und erfahrungsgemäß findet der Aktionist diesen im allernächsten Umfeld. So werden Kinder und Lebensgefährte an schnell errichtete Pranger gestellt – einfach, um einen Grund dafür zu haben, dass nichts, aber auch gar nichts wirklich zustande gebracht wurde.
Der nächst größere Spielplatz für diese Art der Lebensangstbekämpfung ist eine Firma – hier kann es im ungünstigen Fall einen Chef als Aktionisten geben, welcher vor allem eines schafft: Chaos. Aus dem Drang heraus, etwas zu bewegen und auch gleich das Machtgefüge wieder einmal zu zementieren, werden Anweisungen erteilt, die meist nicht nachvollziehbar sind – nur, um kurze Zeit später wieder zurückgenommen und durch neue ersetzt zu werden. Arbeitnehmer, die nicht die Kunst des Gedankenlesens beherrschen, tasten im Trüben, um so etwas wie eine Linie zu finden. Das allerdings ist ein Spiel, das sie nicht gewinnen können, denn bei dem nicht zu verhindernden Durcheinander wird spätestens dann jemand gebraucht, der schuld daran ist, wenn nichts mehr durch Befehle verschleierbar ist.
Chaos tut niemandem gut, den Beschäftigten nicht, die in Richtung Burnout-Syndrom geschoben werden, und ebenso wenig den Initiatoren des Ganzen, denn ein blinder Aktionist wird niemals über das, was er tut, reflektieren, sondern er setzt eine neue, chaotische Aktion obendrauf, um das letzte Desaster vergessen zu lassen. Das Betriebsklima kann man sich vorstellen – es ist eine Brutstätte für Mobbing und psychische Erkrankungen.
Blinder Aktionismus kann allerdings mehr bewirken als nervenkranke Arbeitnehmer – er kann töten. Eines der schlimmsten Beispiele, welche die Geschichte kennt, ist "Der Große Sprung nach vorn". Die Volksrepublik China stand Ende der 1950er-Jahre vor vielen Herausforderungen und der Vorsitzende Mao Tse-tung hatte die zündende Idee, den Anschluss an die Industrialisierung des Westens schnellstmöglich zu erreichen. Für ein Land, dessen Bevölkerung noch im Mittelalter lebte, war dies ein großes Unterfangen. Mao holte zum finalen Schlag gegen alles Hergebrachte und Alte aus – er glaubte tatsächlich, dass er China in wenigen Jahren in die Moderne katapultieren könne.
Maos Maschinerie lief an – überall im Land ließen die Bauern die Pflüge liegen und bauten Hochöfen, schmolzen Metall und trieben die Industrialisierung voran. Die Parteikader trieben erbarmungslos an, schlossen jedoch die Augen vor der unausweichlichen Konsequenz: dem Hunger – denn wo kein Acker bebaut wird, kann keine Ernte eingefahren werden. Die von oben befohlene, unsinnige Aktion wurde vorangetrieben, von Mangel geschwächte Menschen erfüllten das Übersoll, bis sie starben. Die Anzahl der Toten dieser Aktion sowie der anschließenden Kulturrevolution betrug rund 50 Millionen Menschen – selbst für China zu viel. Maos Kampagne scheiterte, die Schuld dafür nahmen andere auf sich.
Macht scheint Betriebsblindheit in erheblichem Maße zu fördern – sie verhindert den Blick für das Ganze und führt im ungünstigen Fall zu dieser Art von blindwütigem Tun, das niemandem nützt, dafür aber vielen schadet. Es muss nicht gleich Tote geben, obwohl auch so etwas vorkommt bei ausgebrannten Menschen, die an den sonderbaren Ideen ihrer Vorgesetzten scheitern und sich aus dem Leben zurückziehen, und zwar gänzlich.
Auf jeden Fall aber bringt blinder Aktionismus niemandem etwas Gutes, er zerstört auf lange Sicht Menschen und auch Firmen, in einigen Fällen auch Nationen ... und er scheint eine Art Droge für die zu sein, welche die Macht haben, sich diesem Rausch hinzugeben. Es ist ähnlich wie bei Drogensüchtigen: sie nehmen die Realität nur durch eine stark subjektive Verzerrung wahr und sind nicht auf ihre Sucht ansprechbar.
Was im Falle des blindwütigen Aktionisten helfen könnte, wäre der Austausch ... aber gerade der findet nicht statt. Ist gestrichen wegen unsinniger Aktionen.
© "Kopfloser Aktionismus in der Chefetage": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2012. Illustrationen: Thomas Alwin Müller, littleART.
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