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Der Stadtanzeiger berichtete in einer kleinen Notiz über mehrere Jugendliche, die verstört auf einem etwas abseits liegenden, schon längst stillgelegten Friedhof aufgegriffen worden waren. In der eher unauffälligen kleinen Meldung wurde das Wort "Schwarze Messe" vermieden, allerdings konnte man sich denken, was die Kids da draußen getan hatten, so mitten in der Nacht.
Im ganzen Umkreis hatte es ähnliche Meldungen gegeben, anfänglich mit groß aufgemachter Schlagzeile. "Satansmessen" hatte da groß gestanden, und die Leute in der eher ländlichen Gegend hatte es angenehm gegruselt – so zwischen den Nachrichten, dem abendlichen Krimi und der Lieblings-Castingshow. Aber die Zeiten, in denen Orte mit weniger als dreißigtausend Einwohnern so etwas lange ernst nahmen, sind längst vorbei. Hier wie anderswo wissen die Eltern selten, was ihre Kinder im Teenageralter so treiben – und wenn sie es irgendwie erfahren, wiegeln sie auf jeden Fall ab.
Was die Kirche betrifft – nun, der eher fortschrittlich eingestellte lutherische Seelsorger lud zu einem Aufklärungsfilm in Sachen Sekten und Trends in das Gemeindezentrum ein und hatte eigens einen ihm bekannten Sektenbeauftragten sowie eine Familientherapeutin zum Kommen bewogen. Der katholische Amtskollege hatte sich mit seinem Bischof besprochen und weisungsgemäß kein Aufhebens von der Angelegenheit gemacht, was heißt, dass er sie ignorierte. Auf Anraten seiner Exzellenz vermied der Pfarrer jeden Bezug zu den Vorkommnissen in seinen Predigten.
Hier und da verschwanden kleinere Tiere – Hühner, Katzen, Tauben. Das kommt immer wieder vor und muss nicht gleich an Opfer bei unheiligen Ritualen denken lassen, wenn die fehlenden Tiere auch alle sehr dunkel oder ganz schwarz waren. Das wurde als reiner Zufall gewertet. Ein Katerchen, das mehrere Tage lang als vermisst gegolten hatte, saß eines Morgens auf der Türschwelle seiner Besitzerin, mit einer üblen Wunde am Hals, die genäht werden musste. "So, als wenn man versucht hätte, dem Kerlchen die Kehle durchzuschneiden mit einem sehr ungeeigneten Instrument, und ein Tier war das nicht", brummelte der Tierarzt. "Wer tut so was?", seufzte Frau Gertraud Blienzle (Gerdi für ihre Freunde) und dachte sorgenvoll daran, dass es für den kleinen Zorro wohl erst einmal Hausarrest geben würde. Der Sicherheit wegen.
Auf dem Heimweg dachte Gerdi sehr intensiv darüber nach, was ihrem Kater zugestoßen sein mochte und stellte eine Verbindung her – denn sie erinnerte sich an Zettel, die sie gesehen hatte beim Einkaufen. "Katze entlaufen ...", "Wer hat unsere Minka gesehen?", oder jedenfalls so ähnlich. Ihr war, als hätte es mehr solcher Meldungen gegeben als gewöhnlich. Gerdi Blienzle arbeitete am Schalter der letzten, sich tapfer verteidigenden kleinen Bankfiliale des Städtchens, die noch mit einem richtigen Schalterbetrieb aufwarten konnte. Aber gerade jetzt hatte sie Urlaub – und das war Zorros Glück gewesen. Seit der ersten Nacht, da er verschwunden war, hatte Gerdi nämlich die kleinen Gärten in der Nachbarschaft und die ganze Allee einschließlich der angrenzenden Spazierwege mit ihrer Taschenlampe abgesucht. Das war drei Nächte so gegangen, bis sie schließlich auf der Stufe zur Haustüre ein kleines schwarzes Fellbündel gefunden hatte – blutend und kaum in der Lage, das Köpfchen zu heben. Normalerweise wäre sie um diese Zeit wohl schon auf der Couch eingeschlafen gewesen, und für das Tier wäre es wahrscheinlich zu spät gewesen, wenn sie ihn nicht gleich gefunden hätte. Er hatte viel Blut verloren und war für 24 Stunden in der Praxis geblieben, nachdem der Arzt die Naht gesetzt hatte – aber Zorro würde wieder gesund werden.
Gerdi Blienzle mochte ungelöste Rätsel nicht besonders – sie wollte wissen, was tatsächlich geschehen war mit ihrem Kater. Was war mit den anderen Katzen passiert, die verschwunden waren? Hatten sie nicht so viel Glück gehabt wie ihr Zorro? Hatte er fliehen können, wo die anderen ermordet worden waren? Was war mit den Hühnern, waren sie einfach gestohlen worden oder gab es einen Zusammenhang? Hatte nicht jemand – Gerdi konnte sich nicht daran erinnern, wer das gewesen war – geflüstert, dass es sich bei den vermissten Tieren fast nur um solche handelte, die schwarz waren? Gerdi glaubte nicht an Zufälle, eigentlich glaubte sie auch nicht unbedingt an die Presse. Trotzdem verbrachte sie den Abend damit, Zorro seinen Fleischextrakt einzuflößen und ihn zu trösten, und auch damit, die regionalen Nachrichten des letzten halben Jahres per Internet abzurufen. Und als sie damit fertig war, las sie bis in die frühen Morgenstunden alles, was sie über Schwarze Messen, Teufelsanbetung und ähnliche Dinge fand. Als Gerdi dann endlich erschöpft neben Zorro auf der Couch einschlief, hatte sie unruhige Träume.
In jungen Jahren – jetzt war sie etwas über sechzig – hatte Gerdi Blienzle sich sehr für das Altertum und die klassischen Sagen interessiert. In den letzten Jahren war diese Vorliebe ersetzt worden durch die Fantasy-Literatur. Gerdi liebte diese Kurzurlaube in andere Welten, wo es zwar abenteuerlicher, aber weniger sinnfrei zuging als in ihrem eigenen Leben, jedenfalls seit sie Witwe geworden war vor fünf Jahren. Nachdem sie aufgewacht war und den Kater versorgt hatte, machte sich Gerdi einen starken Kaffee und resümierte die Informationen, die sie gesammelt hatte in ihrer nächtlichen Sitzung. Sie war überzeugt davon, dass es eine oder mehrere Gruppen in der Umgebung gab, die so etwas wie Teufelsmessen abhielten. Gerdi glaubte keineswegs an übernatürliche Dinge – die gehörten in die Fantasy-Romane, ihrer Meinung nach. Sie war überhaupt nicht abergläubisch. Gerdi ging unter jeder Leiter hindurch, klopfte niemals auf Holz und mochte alle Katzen, die sie traf – völlig egal, aus welcher Richtung sie kamen. Aber Gerdi glaubte an dumme Menschen – sie war alt genug, um sehr viele von ihnen gesehen zu haben und wusste, dass nichts abstrus, verrückt oder krank genug war, um wirklich alle Menschen davon abzuhalten, sich dafür zu interessieren.
Falls sich da Leute trafen, um den "Teufel" anzubeten, dann war das deren Sache. Aber wenn sie Tiere töteten, dann ging das eindeutig zu weit. Und Gerdi hatte nicht vor, tatenlos zu warten, bis noch mehr Leute kreuzunglücklich wegen verschwundener Tiere waren. Und so kam es, dass die sehr rüstige Gertraud Blienzle – schließlich ging sie regelmäßig an drei Abenden in der Woche in das Fitness-Center – in ihren schwarzen Jogginganzug gehüllt und mit einer sehr starken Stablampe ausgerüstet, nächtliche Patrouillen machte. Sie hoffte nur, dass sie die Sache abgeschlossen haben würde, wenn ihr Urlaub zu Ende war, aber bis dahin blieben noch vierzehn Tage und sie war optimistisch. Es gab nicht weit von der Stadt entfernt eine winzige Kapelle, die zwar am Abend abgeschlossen war, aber an deren Wänden man schon öfter geschmacklose Graffiti hatte entfernen müssen. Dann war das Wäldchen mit dem eigenartig geformten Felsen in der Mitte – und natürlich der zum Park umfunktionierte Friedhof. Hier hatte man diese jungen Leute aufgegriffen, die sich sonderbar verhalten hatten. Dass sie unter Drogen gestanden hatten, wie man es in der Zeitung gelesen hatte, glaubte Gerdi nur bedingt. Sie wusste, was sich ein Mensch einbilden konnte, wenn er nicht genau sah, was im Dunkel vor sich ging.
Diese drei Punkte schritt sie zweimal pro Nacht ab, bisher mit mäßigem Erfolg. Gerdi war überrascht, wie viele Hundebesitzer es hier gab, wie oft man über Liebespaare geradezu stolperte, und dass es scheinbar viele Leute gab, die nicht schlafen konnten. Sie selber achtete darauf, nicht gesehen zu werden – da Gerdi ein sehr gut funktionierendes Gehör hatte, konnte sie immer rechtzeitig ausweichen. Die erste Woche verging ergebnislos, was Gerdi nicht weiter wunderte, da das Wetter schön und die Luft mild war. Der abnehmende Mond hatte sich die Woche über gezeigt und ging nun in den Neumond über – und mit der Mondphase änderte sich auch das Wetter. Es wurde am Abend neblig, was sich stetig verstärkte bis in die Nacht und die Sicht nicht gerade leichter machte. Es war ungemütlich draußen – wer nicht musste, verließ das Haus nicht. Auf so etwas hatte Gerdi gewartet – denn die Spinner, die sich Tiere fingen für Satansmessen, bauten auf Ungestörtheit – und Gerdi hatte im Gefühl, dass sich bald etwas tun würde.
Der Abend, als Gerdi Blienzle das Abenteuer ihres Lebens bestehen sollte, war die zweite Neumondnacht und noch nebliger als die Nacht vorher. Gerdi war auf dem Weg zum Park, zum zweiten Mal in dieser Nacht, als sie etwas hörte. Ihre nächtlichen Touren hatten ihre Sinne wohl etwas geschärft, denn sie konnte den Stimmen – darum handelte es sich wohl – folgen, ohne ihre Lampe einzuschalten. Sie kannte jeden Pfad im Park, aber sie hatte sich ausgerechnet, wo so eine Gruppe sich wohl treffen würde, und war zu dem Schluss gekommen, dass das alte Mausoleum dafür am geeignetsten war. Das kleine Bauwerk stand vor einem winzigen Wäldchen, das allerdings von zusammengewachsenem Buschwerk regelrecht eingekreist wurde. Von der Stadt aus konnte man nicht hineinsehen, weil das Grabmal davor angelegt war. Außerdem war dieser Platz sehr weit am Rande des Parks, weit genug weg von den letzten Häuschen. Und Gerdi steuerte genau darauf zu. Je näher sie kam, desto lauter wurde dieses sonderbare Gemurmel – oder war es vielleicht Gesang? Es klang, als wollte ein A-Cappella-Chor alle Möglichkeiten der Disharmonie durchgehen, aber verstehen konnte Gerdi nichts.
Lesen Sie auch den 2. Teil Eine Nacht in panischem Schrecken
© "Der Teufel, die Katze und Gertraud Blienzle": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Die Illustration zeigt den altgriechischen Hirtengott Pan, Lizenz: gemeinfrei.
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