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"Die größte Zauberei, die es gibt." So nennt der kleine Colin aus dem Buch "Der geheime Garten" das Wachsen der Pflanzen. Das beliebte Buch der britischen Autorin Frances H. Burnett handelt tatsächlich fast nur von dieser Art Magie – sie zieht sich durch die Geschichte wie die Feenstaubspur einer Elfe. Die symbolträchtige Erzählung handelt aber auch von vernachlässigten Kindern, sowie Erwachsenen, die ihren Bezug zum Leben verloren haben. Das oft verfilmte Buch gehört zu den Standardwerken für Kinder, und das völlig zu Recht.
In diesem Buch gewinnt das Leben wieder Raum, obwohl es unterdrückt war durch vieles, was einem Menschen widerfahren kann – aber das Wachsen setzt sich durch, ebenso wie die kleinen, grünen Triebe draußen im Garten – in allen Gärten der Welt. Kinder finden es tatsächlich spannend, lässt man sie etwas säen und beobachten, wie daraus eine Pflanze wird. Es ist dabei gleichgültig, ob es sich um Rosen oder Tomatenpflanzen handelt – es ist auf jeden Fall lebendig, und dafür haben Kinder einen speziellen Sinn. Bevor sie verbogen werden und eher praktikabel denken, haben die ganz jungen Menschen eine besondere Sicht der Dinge.
Es kommt vor, dass Kinder einiges mit hinübernehmen in die Welt der Erwachsenen und somit den Zauber nicht verlieren. Die Schulexperimente mit den Samentütchen sind beendet, und Mutters Kräuter auf der Fensterbank verlassen den Fokus – für viele versinkt das kleine Wachstumswunder wieder irgendwo in einem Speicherraum des Erinnerns. Andere lernen etwas Wichtiges – auch wenn es manchmal seltsame Blüten (!) treibt.
Eine Freundin ließ ihre Kressepflänzchen immer wuchern, bis sie zum Verzehr nicht mehr geeignet waren – "Irgendwie tun sie mir dann leid", sagte sie einmal und lächelte dabei. Ein Gärtner, den ich kannte, verabscheute es, mit der Gasflamme das "Unkraut" zu zerstören. "Ich komme mir vor wie ein Henker", sagte er. Das lag vielleicht daran, dass die Triebe sich krümmten unter der Hitzeeinwirkung. Das sah nicht sehr schön aus.
Manche begrüßen jede neue Rosenknospe in ihrem Garten, freuen sich über den Zuwachs an Blüten – und rupfen erbarmungslos alles andere aus. Aber ist es nicht das gleiche Wunder, wenn sich eine hellgrüne Spitze durch die Erde an das Licht bohrt? Aus einem mehr oder weniger winzigen Korn ist etwas Lebendiges geworden, ein magischer Akt hat stattgefunden. Wer Nutzpflanzen haben will, muss allerdings dafür sorgen, dass sie Raum haben – das gilt auch für die dekorativen Blumen und Ranken. Also ist es nicht zu umgehen, das ausrupfen. Aber man muss es nicht gerne tun – so wie es bei manchen Leuten wohl der Fall ist. Da gab es die Nachbarin, die mit grimmigem Gesicht alles eliminierte, was ihre Lieblingsblumen bedrohte – ständig über den Krieg im Beet klagte und erst zufrieden war, wenn sie die Ordnung wieder hergestellt sah und ganz vergaß, sich zu freuen über das Wachsen und Blühen. Wenn sie an ihren Beeten stand, mit den Händen in die Hüfte gestemmt, wirkte sie wie ein Feldherr nach einer siegreichen Schlacht. Nicht wie jemand, der weiß, dass Zauber wirksam ist.
In Burnetts Buch geht es auch um das Auslesen der Pflanzen – aber wie die ganze Geschichte ist das ein Gleichnis. Der Garten ist mit der Seele gleichgestellt in dieser Geschichte. Ein kleines Mädchen, das zwar eine vage Ahnung vom Wachsen hat, aber erst lernen muss, was es bedeutet. Ein Mann, der alles, was nach dem Licht strebt, aus seinem Leben verbannt hat und den Garten seiner Seele absterben lassen will. Ein Junge, der durch die Verweigerung des Vaters ebenfalls abgeschnitten ist von dieser lebenserhaltenden Magie. Dazu kommt ein junger Magier, der das Geheimnis des Lebens um ihn herum bereitwillig annimmt und dadurch entschlüsselt ... sie alle tun etwas Großes, indem sie das Kleine sehen lernen und dadurch ihr Inneres wachsen lassen und behüten.
Die Verfilmungen sind durchaus unterhaltend – doch der Zauber wirkt nur richtig beim Lesen des Buches. Da es für Kinder geschrieben wurde, ist die Sprache klar und wenig schnörkelig – aber gerade das bringt auf geradem Weg Licht in den Geheimen Garten der Leser.
© "Magie gibt es überall": Buchtipp von Winfried Brumma (Pressenet), 2013.
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