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Sie streckte sich ein wenig, unterdrückte mühsam ein Gähnen und wandte ihr Gesicht wieder der Frau zu, die neben ihr stand. "Kennst du das Märchen von den roten Schuhen, Tina?" Die so Angesprochene nickte ganz leicht, und ohne den Kopf zu drehen sagte sie: "Da ging es doch um so ein Mädchen, das unbedingt rote Schuhe haben wollte, nicht? Irgendwie hat sie die dann gekriegt ... aber ich weiß nicht, wie das weiterging." Dann lächelte sie auf einmal und ließ die Brauen hochschnellen, heftig und mit einen Zwinkern – aber der Moment war schnell vorbei und Tina versank wieder in die beiläufige Habachtstellung, die sie die ganze Zeit über innehatte, nicht ohne vorher dem vorbeifahrenden Auto ein gezischtes "Arschloch" hinterherzuschicken.
"Nix los heute – das Sauwetter fegt die Straße leer wie nix", brummelte sie dann. "Aber wieso kommst'n jetzt grade auf Märchen, sag mal?" Nicole reckte den Kopf, sah einem Auto hinterher, das vorbeirauschte und einen kleinen, dreckigen Wasserfall auf den Bordstein losließ. "Ist mir eingefallen – es hatte viel mit 'haben wollen' zu tun. Das Kind hatte so eine Oma oder Tante oder so was. Es durfte nie 'was und musste sich immer benehmen. Ganz genau weiß ich es nicht mehr." Sie fummelte eine Zigarette aus ihrer Handtasche und steckte sie zwischen die Lippen. Die nächsten Worte kamen etwas undeutlich heraus, weil Nicole gleichzeitig ziehen und reden wollte. Dabei verzog sie abenteuerlich das Gesicht, als sie eine kleine Wolke aus dem Mundwinkel paffte.
Tina lachte heiser auf und sagte: "Pass auf, du sengst dir noch die Wimpern an." "Sind ja sowieso falsche", konterte die immer noch mit dem Feuerzeug beschäftigte Nicole. Dann sprach sie weiter, unterbrach ab und zu, indem sie einen hektischen, tiefen Zug nahm und dabei immer wieder die Straße entlangsah. "Als ich noch klein war, da hab ich auch unbedingt rote Schuhe haben wollen. Ich hatte so ein Paar gesehen im Schaufenster. Das waren knöchelhohe Turnschuhe – aus knallrotem Leder. Ich wollte die unbedingt haben, aber die Alte meinte, dass die Treter fürchterlich aussehen würden." Sie lachte ein wenig. "Irgendwie war ich besessen von den Dingern, glaubste das? Ich träumte sogar von denen. Muss meine Mutter wochenlang damit beackert haben. Bis sie dann weg waren aus dem Schaufenster. Aber ich hab die Teile nie vergessen."
"Und, haste sie gekriegt?" Tina hatte es fast schläfrig und ein wenig abwesend gesagt. Als Nicole nicht antwortete, sagte sie plötzlich in die regenrauschige Stille hinein: "Bei mir war's 'ne Lederjacke. Meine Freundin hatte so eine, eng und mit Nieten auf'n Aufschlägen. Sah geil aus. Aber meine Leute hatten die Kohle nicht. Wär' auch nicht so gut gekommen daheim. Verstehste ... so was haben nette Mädels nich'." Tina kicherte ein wenig. "Ja, so was ging gar nicht. Ich war eigentlich nie so auffällig angezogen, weißte. Jeans und so was halt – auch mal 'nen Rock. Aber nix knalliges irgendwie. Diese Schuhe hätten zu überhaupt nichts gepasst bei mir. Aber ich wollte die einfach. So wie im Märchen. Weiß nicht mal, was ich mir dabei dachte."
Tina kniff die Augen etwas zusammen und streckte die Hand mit den langen Nägeln zögerlich unter dem Vordach hervor, unter dem sie mit Nicole stand. "Ey, man sieht's nicht, aber es macht immer noch runter, Mensch." Dann, nach einer Pause: "Weißt du, die Leute in der besten Clique der Schule hatten alle genau solche Jacken. Aber die waren alle irgendwie anders – hatten wahrscheinlich alle mehr Kohle. Wollte dazugehören." Sie suchte umständlich nach einem Kamm in ihrer Tasche, fuhr sich dann rasch durch die feuchten Haare. "Eigentlich waren die blöde, weißte – doof irgendwie. Eigentlich wollte ich nicht wirklich bei denen rumhängen – aber halt irgendwie nicht alleine abhängen. Ich war'n Einzelgänger."
Nicole hatte zugehört, dann warf sie ihre Kippe in weitem Bogen in den Rinnstein, der sich in einen winzigen, reißenden Fluss verwandelt hatte. Sie schniefte, meinte dann: "Ich hielt's kaum aus daheim – war nicht wirklich schlimm, wie bei anderen, die ich kannte. Ich meine, ich kriegte keine Kloppe oder so. War ganz gut in der Schule, hab auch gerne mal gelesen ... damals." Tina grinste, sagte aber nichts. Nach einem raschen Blick zu ihr nahm Nicole den Faden wieder auf.
"Ich durfte auch nie richtig was – bei uns war es immer so, um's anständig zu tun. Anfang der Achtziger – bekloppt. War miefig und so – ich wollte halt raus." Tina lachte ein wenig krätzig. "Wer nich'", sagte sie.
Der Regen tröpfelte in wirrem Takt und fast laut von der Kante des Vordaches herunter. Dann sagte Tina plötzlich: "Ich glaub, das Mädchen hatte ziemlich Scheiße am Hals mit den roten Schuhen. Kriegte die Füße abgehackt oder so was – jedenfalls ging das Märchen nicht gut aus, oder?" Ein Wagen fuhr langsam an den Bordstein. "Na kuuuuuck mal – der Heinz, na dann ist der Abend ja noch gerettet. Ein Hoch auf die Stammkundschaft", flötete Nicole. Dann warf sie ihre Tasche über die Schulter und stakelte auf die einladend aufblendenden Scheinwerfer zu. Dann hielt sie kurz inne und sagte über die Schulter zu Tina: "Mit Märchen geht es nie gut aus, weißte."
Tina sah der davonstöckelnden Nicole nach, bis sie sich gekonnt auf den Beifahrersitz schlängelte. Das letzte, was von ihr zu sehen war, bevor sich die Autotür schloss, waren die Füße mit den feuerroten High Heels, die sie meist trug, wenn sie auf Arbeit war. "Nee", murmelte Tina vor sich hin, "auch dann nich', wenn sie 'nen Wunsch erfüllt kriegen".
© "Die roten Schuhe": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Rote Damenschuhe, CC0 (Public Domain Lizenz).
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