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Immer dachte sie an diesen Satz. Seit Tagen ging er ihr im Kopf herum wie ein Kreisel, den eine Geisterhand antreibt. "Angst essen Seele auf" – ein alter Fassbinder-Film, sie erinnerte sich kaum daran, worum es eigentlich gegangen war. Aber dieser Satz, der war ihr im Gedächtnis geblieben. "Ja", sagte sie leise, "Angst essen wirklich Seele auf." Die Freundin verstand es nicht, keiner verstand es wirklich. "Ich weiß nicht, was du willst – bewirb dich. Mehr kannst du nicht tun."
Bewerben, bewerben, bewerben, das leierte wie ein unguter Blues immer in ihren Gedanken. Sie bewarb sich, ging hierhin und dorthin, schrieb Bewerbungen. Kleine, sauberst abgefasste und tadellos ausgedruckte Bettelbriefe. Ihr Sachbearbeiter hatte sie ermahnt, hatte ihr Blankozettel mitgegeben. "Hierhin kommt die Firma, dann das Datum da ... aber ich denke, Sie haben es verstanden." Das hatte sie. Sie fragte sich nur, wie es kam, dass dieser junge Kerl da hinter dem Schreibtisch saß, und sie davorsaß – nur knapp auf der Stuhlkante. Jederzeit bereit zur Flucht, sobald er sich erhob und somit anzeigte, dass die Sitzung beendet war.
Höflich war man – früher sollte das ja anders gewesen sein. Man hörte da solche Geschichten. Aber eines war gleich geblieben: die Angst. Sie schlief entweder schlecht oder gar nicht erst. Der Morgen war ein Kraftakt, manchmal taten ihr die Beine so schrecklich weh – sie war nahe an die sechzig. "Abnutzung", hatte der Hausarzt gesagt. Aber sie durfte nicht schlafen am Morgen. Vielleicht kam ja jemand – und wie sah das aus, wenn sie noch nicht richtig angezogen war.
"Du hast es ja gut", hatte ihre Freundin gesagt. Die letzte von vielen übrigens. Seit sie keine Arbeit mehr hatte, war nur noch eine geblieben, und das wahrscheinlich auch nur, weil es so bequem war, schnell mal eben auf einen Kaffee bei ihr hereinzuschneien. Sie war ja verfügbar. Sie hatte keine Arbeit. "Du kannst schlafen, so lange du willst." Dabei hatten ihre Augen so sonderbar ausgesehen ... sie morsten das Wort FAULHEIT mit kleinen, kalten Blitzen. Und sie hatte sich so geschämt. Dabei war es erst neun Uhr gewesen. Aber sie war einfach erschöpft liegengeblieben nach der durchwachten Nacht. Zwei oder dreimal hatte man sie zu einem Vorstellungsgespräch geschickt. "Die suchen immer Leute und stellen fast jeden ein." Sie hatte gelernt, diesen Satz zu fürchten. Er bedeutete Knochenarbeit, Schichten, Angst vor Versagen, weil es einfach nicht mehr gehen wollte. Und es war auch nicht gegangen.
Eine Wäscherei hatte ihr "eine Chance gegeben". Sie war glücklich gewesen, bis zu dem Tag, an dem sie umgekippt war und man sie zum Krankenhaus bringen musste. Das ständige Schleppen von riesigen Drahtkörben, das Bücken und vor allem der Zeittakt waren zu viel gewesen. Sie bekam keine Luft mehr. Dann war es schwarz um sie geworden. Was dann folgte, tat noch heute weh.
"Drückeberger", flüsterte eine hämische Stimme, sobald Menschen mit ihr darüber sprachen. Und in den Augen der Menschen las sie es ebenso deutlich wie ihren Bescheid, den sie halbjährlich von der Arge bekam. Die Freundin war sehr mitfühlend gewesen. Sehr. So sehr, dass sie sich zusammennehmen musste, um nicht zu schreien. "Vielleicht hättest du mit den Leuten reden sollen, dann hätte man dir vielleicht eine leichtere Arbeit zugeteilt." Sie wusste, dass sie nichts anderes hätte tun können in der Hölle dort. Man verschliss dort die Menschen. Auch die jungen Frauen waren ständig müde, hatten Schmerzen und blieben nie lange da. Keiner blieb dort lange, und der Ton war rüde. Das hatte fast acht Wochen gedauert. Acht Wochen, in denen sie zwischen Hoffnung und Angst hin und hergeworfen war. "Vielleicht gewöhne ich mich daran." Aber das konnte sie nicht. Es war nicht gut bezahlt, sie hätte sogar weniger gehabt unterm Strich, als ihre Bezüge jetzt waren. Aber das war ihr gleich gewesen.
Alles noch ein wenig einfacher, noch ein wenig "weniger", einfach alles noch einen Teilstrich nach unten. Aber dafür die vollen Bürgerrechte. "Du redest ja ein Zeug", hatte die Freundin gesagt. "Bürgerrechte, also wirklich." Dann war sie in ihr Auto gestiegen, um die Enkelkinder abzuholen. Sie wollten ins Kino gehen. Der Mann hatte ein gutes Gehalt – gearbeitet hatte die Freundin seit Jahren nicht mehr. "Du weißt schon, die Kinder", hatte sie gesagt.
"Wovor hast du denn eigentlich Angst?", fragte man sie. Sie konnte es nicht erklären. Wem sollte sie sagen, dass sie sich nirgends mehr sicher fühlte. Alles, was sie in ihrer Wohnung hatte, kam ihr wie auf Pump gekauft und noch nicht bezahlt vor. So als hätte sie nicht wirklich das Recht, hier zu sein. Das war Unsinn, aber wie konnte sie sagen, dass ihr irgendetwas gehörte, wenn sie nichts dafür tun konnte? Sie hatte Angst, dass sie nie wieder eine Arbeit finden würde, und sie hatte ebenso große Angst, dass sie es wieder versieben würde, wenn sie doch wieder etwas bekäme. Sie hatte Angst, dass das Geld nicht reichte, obwohl sie zwanghaft sparsam war. Sie hatte auch Angst vor dem Briefkasten, weil sie Rechnungen fürchtete. Sie hatte auch Angst, unter Menschen zu gehen, denn wenn über die Arbeit geredet würde, was sollte sie dann sagen.
Die Jungen, die hatten auch Angst, das wusste sie. Aber die gingen wohl anders damit um. Sie konnte nichts tun, gar nichts – sie hatte zu viel Angst. "Wir gehen zum Altstadtfest, magst du nicht mitkommen?", hatte die Freundin gesagt. "Also, du musst dir keine Gedanken machen, ich lade dich ein. Ein Bierchen und eine Brezel machen mich nicht arm. Oder machen dir die Beine wieder Ärger?"
'Sie fragt nach meinen Beinen, warum fragt sie nicht nach meiner Seele. Oder denkt sie, dass ich keine habe, weil ich mir die Brezel und das Bierchen nicht leisten kann?'
Als die Freundin – in Gedanken nennt sie sie immer noch so – gegangen ist, steht sie am Fenster. Es ist ihr gleichgültig. Sie braucht keine Freunde mehr. Denn für Freundschaften braucht man eine Seele. Eine, die nicht aufgegessen ist.
© "Glück ist die Abwesenheit von Angst": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013.
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