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Ich wohne hier – daran ist nichts zu rütteln. Meine Leute und ich, wir gehen uns, so gut wir können, aus dem Weg. Zwar sagt man unserem Clan einigen Familiensinn nach, aber Ausnahmen gibt es ja immer. Das Leben könnte schön sein, auch wenn ich mich hin und wieder etwas einsam fühle, wissen Sie. Aber – wie wir zu sagen pflegen – ein Dorn steckt in jedem Rippenstück.
Der Wald hier ist normalerweise recht ruhig, Menschen gibt es eigentlich selten. Holzfäller lassen sich manchmal blicken, sie schlagen Stämme am Waldrand und bringen sie weg. Tiefer in den Wald hinein trauen sie sich nicht, es hätte auch nicht viel Sinn. Das Unterholz ist dicht und verflochten, kein Problem für unsereines – aber diese ungeschickten Zweibeiner finden da kein Durchkommen. Die halten sich an den einzigen Weg, der durch diesen Wald führt. "Weg" ist wohl etwas zu viel gesagt, es handelt sich um kaum mehr als einen schmalen Pfad. Hier entlang gehen die Menschen, wenn sie die große Straße meiden und den Weg etwas verkürzen wollen.
Jäger kommen durch, ohne viel von mir oder anderen Bewohnern dieser Gegend zu sehen – es ist einfach zu unwegsam. Zudem hat unser Clan für Ängste gesorgt, bei denen, die in einem Bau aus Holz oder Stein wohnen – es wird wohl so sein, dass diese unverständlichen Zweibeiner unsere Abendlieder falsch verstehen. Unser Gesang macht ihnen Angst – und das ist gut so, denn es hält sie fern von uns. Tatsächlich rufen wir zum Sammeln, wenn die Jagd beginnt, oder wir singen ganz einfach am Abend, wenn wir die Sonne für diesen Tag verabschieden. Etwas Böses ist nicht dabei, aber andererseits mag ich die Stimmen der Menschen auch nicht besonders.
Jedenfalls treibt sich seit einigen Wochen eines ihrer Jungen hier herum. Kaum mehr als ein Welpe, stiefelt dieses kleine Ding durch diesen Wald – meinen Wald – ohne sich zu fürchten. Soweit ich weiß, verstehen die Menschen nicht, ihre Kleinen richtig für das Leben zu erziehen. Wie sonst könnte so etwas vorkommen. Keines unserer Weibchen würde seine Kinder so völlig alleine dieses Revier durchqueren lassen.
Ich habe dieses Kind beobachtet, leise und ohne mich sehen zu lassen. Ich kenne seinen Geruch, der mir alles von ihm verrät. Ich weiß von den langen Stunden in einem verrauchten Haus, zu dem auch Ziegen und Hühner gehören. Ich habe den Geruch des Muttermenschen entdeckt, ein gesunder und weicher Duft, der mir trotz des beißenden Holzfeuergeruchs angenehm ist. Das Welpchen da, es ist weiblich. Es trägt Dinge in seinem Korb, von dem ich weiß, dass sie essbar sind, aber sehr fremd.
"Neugierde ist des Wolfes Tod", sagt man bei uns ... und trotzdem bin ich fasziniert von diesem Kind. Ich habe herausgefunden, dass es ein Rudelmitglied besucht, um dort die Sachen hinzubringen, die im Korb sind. Ich bin hinterhergelaufen, die Nase im Wind, um zu sehen, wohin das Kleine geht – und ich fand den kleinen Steinbau, in dem ein weiblicher Mensch wohnt und auf das Kind wartet. Sie sind ein Blut, die beiden, das sagt mir meine Nase – nur ist dieser weibliche Mensch sehr alt. Sie übertreffen unsere Lebensspanne bei weitem, die Menschen. Es liegt wohl daran, dass sie ihre Unterschlupfe hinstellen können, wo es ihnen beliebt.
Wind, Schnee und Regen bedeuten ihnen nicht so viel – außerdem haben sie Feuer. Man könnte denken, dass sie sehr klug sind, diese Zweibeiner – aber weit gefehlt. Geschickt mögen sie sein mit ihren langen Greifpfoten, aber sonst sind sie eher dumm. Sie bemerken unsereinen nicht einmal, wenn sie uns fast auf den Schwanz treten – und sie bewegen sich täppisch wie kranke Bären. Ihre Nasen sind verschlossen, sie nehmen nicht viel wahr. Interessant finde ich Menschen trotzdem, sie erheitern mich und außerdem überraschen sie mich immer wieder.
Ich folge diesem Menschenwelpen also jedes Mal, wenn es in den Wald kommt und wenn es ihn wieder verlässt. Angst hat das Kind keine, das würde ich riechen können. Anders als die anderen, die hier durchkommen, sieht sie sich nicht ständig um und beschleunigt ihren Schritt, um schneller aus dem Wald herauszukommen. Sie geht langsam, mit wachen Augen, setzt sich hier auf einen Baumstumpf und sieht den Ameisen zu. Dann geht sie in die Hocke, um eine Blume genauer anzusehen. Das Erstaunliche dabei ist, dass das Kind die Blume nicht abreißt, so wie es normalerweise die Art der Zweibeiner ist.
Das erstaunliche Kind sieht sich alles genau an, ohne irgendetwas zu verändern. Einmal habe ich sogar gesehen, wie ein überraschtes Reh stehen blieb und das Menschenkind betrachtete. Mich hat das Hüpfding nicht gewittert, ich stand gegen den Wind – und da war das Kind wie gebannt stehen geblieben. Zu meinem Erstaunen habe ich zum ersten Mal bemerkt, dass Menschen über die Sprache des Gesichtes verfügen. Mir war das nie aufgefallen – mir reichten die Stimmen und der Geruch. Ich hätte auch nicht gedacht, dass sie zu so etwas fähig sind. Ich war überzeugt davon, dass Zweibeiner sich nur mit ihren misstönenden Lauten verständigen können. Mein Volk spricht mit der uns eigenen Mimik – schon die Allerkleinsten können in den Gesichtern lesen.
Aber das Wunderbare war, dass ich dieses kleine Menschending verstand. Erst war sie ganz Aufmerksamkeit, dann veränderte sich ihr Blick und wurde zu reiner Freude. Ihr Geruch veränderte sich, aber ihr Gesicht sah aus wie das eines zufriedenen Wolfs, der sich über den Mond oder den sanften Regen freut. Seit der Zeit beobachte ich ihr Gesicht ständig – tatsächlich verstehe ich alles, was sie fühlt. Mit den anderen meines Clans habe ich mich nicht darüber ausgetauscht. Sie werden es wohl nicht für möglich halten und denken, dass ich immer sonderbarer werde.
Trotzdem freue ich mich über meine Entdeckung. Es zeigt mir, dass Menschen und Wölfe miteinander leben könnten, ohne dass es Tod und Trauer geben muss. Ich würde mich dem Welpen gerne zeigen, vielleicht nur um zu sehen, dass sie keine Angst hat. Aber wenn ich das tue, wird sie es vielleicht dem alten Weibchen im Steinbau erzählen – und dann geht es wieder los mit diesem Unsinn. Die Erde weiß, was für einen üblen Ruf wir haben – und eine Zeit lang würden solche mit diesen Krach-und-Stinkdingern durch unseren Wald trampeln. Das kann ich den anderen meines Clans nicht zumuten.
Sie würde keine Angst haben – sie würde mich ansehen, so wie sie dieses Reh betrachtet hat. Und ihre Freude wäre etwas, das ich riechen und fühlen könnte wie diese Sonnenkringel auf dem Moos. Wir würden uns verstehen, das glaube ich wirklich. Dieses Kind, dieser Menschenwelpe, begreift die Welt wie ein junger Wolf: in ihrer ganzen Schönheit.
© "Graufellchen und das freundliche Kind": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Bildnachweis: Rotkäppchen und der Wolf, CC0 (Public Domain Lizenz).
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