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Kanaletti heißt die Kneipe, in der wir rumhängen. Nicht jede Nacht, aber fast jede. Der Name ist vielleicht schrottig, aber irgendwie passend. Fünfzehn Stufen aus grauem Zement führen hinunter in einen schlauchförmigen Raum, der an den Wänden mit runden Tischen und Stühlen aus Metall vollgestellt ist. Klar, dass alles schwarz lackiert ist – soll ja passen. Das Mobiliar hat Frank – so heißt der Besitzer – wahrscheinlich direkt vom Schrott abtransportiert. Die Teile sehen aus wie diese alten Coca-Cola-Tische und -Stühle, nur eben in blasigem Lackschwarz gespritzt. Neonlicht in eigentümlich krankem und kaltem Blauton – ein toller Ort, um sich noch kaputter zu fühlen, als man es tatsächlich schon ist.
Drogen ... eigentlich spielen Drogen keine große Rolle, nur hier und da vielleicht ein kleiner Aufheller – nichts Gravierendes. Bescheuerte Kreationen, die "Sargnagel" oder "Red Victim" heißen und hinter denen sich nichts anderes als Whisky Coke oder sonst eine bodenständige Plürre verbergen, sind der Stoff, der hier so konsumiert wird. Alle mögen das Gegenteil von gemütlich, den entgegengesetzten Pol von "daheim".
Die Tanzfläche ist winzig, aber dafür in Schwarzlicht getaucht. Hier sieht man jede Menge schwarze Mäntel und kniehohe Stiefel – wer keine schwarzen Haare hat, färbt sie eben. Na gut – eine Szenekneipe, wie es sie zu Dutzenden gibt, weiter nichts. Zweimal in der Woche wirft Frank mit einem Uralt-Projektor einen alten Horrorfilm auf die Wand. Meist sind es antike Streifen, oft Stummfilme. Nosferatu ist ein Renner – aber hinsehen tun nicht viele.
Viele Typen hier stehen wahrscheinlich stundenlang vor dem Spiegel und schminken Narben, blutunterlaufene Augen oder sonst irgendetwas Zombiehaftes auf ihr Gesicht. Manche haben echte Tattoos, so wie Mandragorapflanzen, oder Pentagramme unter einem Auge oder im Genick. Mich nennen alle Lupa – wegen meinem Kontaktlinsentick. Schwarze Haare, gezielt strähnig (was mich eine Menge Zeit kostet, bevor ich losgehen kann), ebensolche Klamotten und bleiches Gesicht – damit liegt man hier immer richtig. Und die gelben Augen sind ein umwerfender Kontrast zu all dem Grau und Schwarz. Es gefällt mir so – ich mag die Atmosphäre hier und habe richtig Heimweh, wenn ich mal einen Abend nicht hier sein kann.
"Hey Lupa – hast du Thilo gesehen? Ich such den, Mensch." Ich zucke die Schultern und schiebe den Kerl beiseite, ich gebe ihm keine Antwort. Thilo ... jaja ... klar. Wen interessiert das – das ist Schnee von gestern.
"Frank sagt, du bist mit ihm raus gestern." Also gut, der Kerl will es genau wissen – ich dreh mich also um und sehe ihn mir genauer an. Ziemlich dünner Typ – von der Sorte, die gut hierher passt, weil er immer kränklich blass aussieht. Der hat in den letzten Monaten garantiert nicht viel Sonnenlicht gesehen – sieht ausgebrannt aus. Und jetzt erinnere ich mich – er hing mit diesem Thilo rum, klar. Dass er weiß, wie ich heiße, bedeutet nichts – mich kennen nun mal alle. Der gelben Augen wegen. Das mit den gefärbten Linsen war mal extrem der Knaller hier, aber das hat nachgelassen ... allzu lange verträgt man die Teile nicht. Ich bin so ziemlich die Einzige, die ständig mit gelben Augen rumläuft.
Jetzt grapscht der Loser mich tatsächlich am Arm, brabbelt immer noch von Thilo. Und dann krieg ich mit, was er eigentlich sagen will. Er sucht seinen Bruder – verdammt, ich wusste nicht, dass Thilo einen Bruder hatte. Normalerweise ist das hier nicht die Location für enge Verwandtschaftsbeziehungen. Und kaum eine Familie verträgt mehr als einen abgehalfterten Nachtanbeter. Muss ein irrer Haufen sein, wo dieser Typ hingehört. Irgendwo hinter meiner Stirn knurrt eine Stimme: "Böser Fehler."
Aber ich reiße mich zusammen und geh mit dem Idioten vor die Tür. "Thilo musste mal eben die Biege machen für'n paar Tage, okay?" Der Dürre glotzt mich zweifelnd an – wahrscheinlich kommt so was nicht vor bei Brüderchen. Ich seh mich kurz um – niemand in der ziemlich düsteren Seitenstraße – also sag ich dem Aufdringling, wo ich ihn treffen werde, um die Eskorte zu Thilo zu machen. Er zieht ab, geht nicht mal mehr rein in den verqualmten Bunker. Ich habe mir zwei Stunden Zeit verschafft, in denen ich dafür sorge, dass jeder mitbekommt, dass Lupa da ist. Abtanzen auf der mickrigen Tanzfläche ist da immer ein moderates Mittel. Und dann wird es Zeit – gegen ein Uhr nachts.
Ich wohne in einem alten Fabrikbau, der vor der Stadt liegt – dort geht kaum jemand hin, nicht mal die Penner. Wahrscheinlich ist denen das Gelände zu unheimlich. Am Eingang kreist ein schwaches Licht – der Tölpel hat eine Taschenlampe mitgebracht. Als ich bei ihm bin, zische ich ihn erst einmal an, damit er das Ding ausmacht und mir gefälligst folgt. Die alte Fabrik hat einen weitläufigen Keller, dahin lotse ich den Widerling, der mich immer noch vollbrabbelt von wegen seinem Bruder und was eigentlich los ist.
Als wir da ankommen, wo ich ihn haben will, fällt ein breiter Streifen Mondlicht durch die zerbrochene Decke in den Kellergang, in dem wir stehen, so dass wir einander sehen können. "Echt, Lupa – diese Kontaktlinsen sind der Hammer, die leuchten ja richtig", flüstert das Brüderchen. Ich halte es nicht für nötig, ihm zu sagen, dass ich meine Kontaktlinsen nicht trage heute Nacht, als ich auf ihn zugehe.
© "Eine Stadtwölfin in der Szenekneipe": Kurzgeschichte von Winfried Brumma (Pressenet), 2013. Die Abbildung zeigt ein schwarzes wolfsähnliches Tier, Lizenz: gemeinfrei.
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