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In irgendeinem Lesebuch meiner Schulzeit gab es diese Kurzgeschichte über Wölfe von Hans Bender. Es ging um Kriegsgefangene in Russland, aber das war nicht die Hauptsache. Eigentlich erinnere ich mich nur an das Bild von den Wölfen, das der Erzähler vermittelt hatte.
Der Krieg ist gerade vorbei, da kommen die Grauröcke wieder zurück in die Gebiete, die von den Menschen bewohnt sind. Sie spüren, dass das Morden vorbei ist und ziehen wieder in ihre Reviere. Einige Männer beobachten den Zug der Wölfe, die stumm und zielstrebig in einem nicht enden wollenden Zug in ihre Heimat zurückgehen. Stunden dauert es, bis der Zug der Grauen an den beobachtenden Menschen vorbeigelaufen ist.
Damals hat mich das beeindruckt – obwohl ich es für Unsinn hielt, dass es so viele Wölfe geben sollte. Dass die Tiere den Frieden wittern können, hatte ich als gegeben angenommen. Die Männer, die da im Wald mit verhaltenem Atem zusehen, wie die Tiere wieder ihr Gebiet einnehmen, stellen die Rückkehr der Wölfe nicht infrage. Sie nehmen es eher als etwas hin, das nun einmal so ist. Und Stunde um Stunde um Stunde läuft Wolf hinter Wolf an ihnen vorbei.
Jetzt heißt es in Deutschland "Die Wölfe kommen zurück". Vertrieben vom Menschen, der keine Konkurrenz bei der Jagd dulden will, haben sich die Populationen anderswo wieder erholt. Und da Wölfe Wanderer sind, kommen sie zurück. Nicht wie in der Geschichte von Hans Bender, sondern eher unauffällig und leise. Und ganz gewiss nicht so viele.
Die Tierschützer sind glücklich darüber – die Jäger nicht. Und schon geht wieder die Angst vorm bösen Wolf um. Hier wird einer gesichtet und da auch – Viehrisse werden gemeldet. Selten ist das, was man gesehen hat, auch wirklich ein Wolf – und getötetes Vieh geht meist auf das Konto verwilderter Hunde. Um die Kinder hat man Angst – man heißt ihn nicht willkommen, den Wolf, der lange vor dem Menschen hier lebte und niemals eine Art ausgerottet hat.
Er hielt – so wie er es anderswo immer noch tut – die Herden seiner Beutetiere gesund. Denn wenn er auch im Verband jagt: er zieht kränkliche Tiere vor. In neuerer Zeit hat das der Biologe Farley Mowat bewiesen ... entgegen dem Verlangen seiner Auftraggeber, die gerne andere Forschungsergebnisse gehabt hätten. Im Blutrausch und aus Spaß, einfach weil er es tun kann: so tötet der Mensch, aber nicht der Wolf. Für den ist die Jagd kein Hobby, sondern bittere Notwendigkeit.
Wölfe reißen nicht jeden Tag ein Stück Wild – dafür fressen sie allerdings viele Mäuse und andere Kleintiere. Das ist zwar arbeitsintensiv, aber für den Wolf weitaus ungefährlicher als die Jagd auf große Tiere. In der Natur muss mit dem Energievorrat sorgsam umgegangen werden.
Hier geistert der böse Wolf noch durch unsere Köpfe – die Bestie, die einem Menschen im dunklen Wald an die Kehle fährt und den Spuren der Kinder folgt. Davon ist nichts wahr, denn Wölfe sind sehr scheu. Ihre Klugheit und ihr Instinkt hält sie von Menschen fern.
Farley Mowat beschreibt in seinem Buch, wie er stundenlang einen Wolfsbau beobachtete, ohne ein einziges Tier vor die Linse zu bekommen. Als er sich einmal umdrehte, bemerkte er zwei Wölfe, die einige Meter hinter ihm saßen und ihn neugierig und interessiert betrachteten. Sie hätten ihn ohne weiteres hinterrücks angreifen können, aber dafür sahen sie keinen Grund. Außerdem respektiert ein Wolf ein fremdes Territorium. Mowat war es leid, dass sie mit seinen Ausrüstungsgegenständen spielten und kam auf eine Idee: er trank literweise Flüssigkeit und verteilte seinen Urin rund um das Lager. Der Leitrüde übertrat diese Grenze nicht mehr, nachdem er die Duftmarke bemerkt hatte.
Wölfe sind keine Hunde – aber sie sind auch nicht aggressiv. Falls sich Sichtungen in der Nähe von Wohngebieten häufen – und es denn wirklich ein Wolf war – dann liegt der Schluss nahe, dass die Tiere ihr Verhalten ändern. Das hat mit der Notwendigkeit zu tun, denn ihr Lebensraum ist nicht mehr so wie er einmal war – und das Wild längst dezimiert und eifersüchtig gehütet vom Menschen. Das bedeutet aber nicht, dass sie gefährlicher würden. In Ländern im Osten streichen Wölfe sogar direkt am Stadtrand herum – und niemand fürchtet sich. Es sind meist einzelne Tiere – und durchaus nicht aggressiv.
Der Verhaltensforscher Erik Zimen war es wohl, der einmal gesagt hat, dass ein verwilderter Hund weitaus gefährlicher sei als ein Wolf. Denn dem Hund fehlt die Scheu vor dem Menschen – er traut sich näher heran, auch an die Ställe und Weiden. Nicht immer ist es ein Fuchs oder Marder, der Hühner stiehlt oder ein Lamm reißt.
Wie wir heute wissen, gibt es nicht einen wirklich belegten Wolfsangriff auf Menschen – selbst wenn er Schlitten und Wagen verfolgte, dann nicht der menschlichen Beute, sondern der Pferde wegen. Kalte Winter, in denen hungrige Wölfe um die Häuser streichen und unheimliches Geheul durch die Nacht dringt – das ist eine Legende. Denn gerade im Winter finden Wölfe leichtere Beute als im Sommer und haben es nicht nötig, bei den Menschen zu betteln.
Dass wir mit den Wölfen nicht mehr so zusammenleben können wie früher, ist wohl einleuchtend. Wir müssen zusammenrücken. Und das schulden wir dem Wolf. Denn er hat ebenso ein Heimatrecht wie wir – und wir haben viel an ihm gutzumachen.
Gäbe es die Jagd nicht, würde der graue Ökologiespezialist seine Arbeit so tun wie er sie Tausende von Jahren getan hat, und ohne dass er den Menschen belästigt. Warum also verwehren wir es ihm?
"Einer ist des anderen Wolf" – dieses Sprichwort weist darauf hin, dass unsere Gesellschaft nicht gerade aus sanften Lämmern besteht, sondern aus bösen Raubtieren, die sich untereinander jagen und fressen.
Von einem Wolf im Schafspelz wird gesprochen, wenn freundliches und charmantes Gebaren die inneren bösen Absichten verbergen soll. Und überhaupt ist der Wolf übelst beleumundet gewesen durch die letzten Jahrhunderte, jedenfalls in unserem Kulturkreis. Da werden aus den eigentlich eher scheuen Caniden mörderische Räuber, die sogar Menschen anfallen und fressen.
Neben den Bären waren die Wölfe lange Zeit die größten Beutejäger in Europa und hatten schon allein deshalb Anspruch auf den Titel "Menschenfeind Nr. 1". Sonderbarerweise sind Bären nicht so negativ belegt, obwohl sie sehr gefährlich werden können. Ihnen fehlt ein Gutteil der Scheu, die Wölfe dazu bringt, den Menschen auszuweichen. Der böse Wolf, der auch in einigen Märchen und Legenden eine Hauptrolle spielt, ist erst in den letzten Jahren zu so etwas wie einer Rehabilitation gekommen, was er nicht zuletzt den Verhaltensforschern zu verdanken hat. Fachleute, wie zum Beispiel der Zoologe Erik Zimen oder der Biologe Farley Mowat, haben sich intensiv mit dem Wolf befasst und durch ihre Publikationen mit sehr vielen alten Vorurteilen aufgeräumt. Letzterer ist auch Schriftsteller und Naturforscher und hat seine Erfahrungen mit Wölfen in einem ebenso unterhaltsamen wie interessanten Buch verarbeitet.
Mowat sollte nach Beendigung seines Studiums im Auftrag der kanadischen Regierung das Fress- und Jagdverhalten der Tiere beobachten, da man befürchtete, dass die Karibuherden von den Wölfen Kanadas zu stark dezimiert werden würden. Doch was der Forscher herausfand, gefiel den Verantwortlichen, die wohl gerne zum großen Halali geblasen hätten, nicht, denn Mowat konnte belegen, dass den Wölfen mehr Mäuse als alles andere zum Opfer fallen. Die Karibujagd ist auch für die pelzigen Meister des Teamworks nicht einfach, obwohl sie vor allem die kranken und alten Tiere aus der Herde nehmen. Das bedeutet, dass die Wölfe die riesigen Populationen gesund erhalten. Das ist hier in Europa ebenso gewesen, gewissermaßen funktionierte alles perfekt – bis die Menschen sich ausbreiteten.
Man kann von einem wilden Caniden nicht verlangen, dass er die Hintergründe kennt, die dazu führen, dass schmackhafte und leicht zu greifende Beutetiere wie Schafe oder Ziegen wie für ihn bereitgestellt in Pferchen warten. Er wird das vermeintliche Angebot natürlich annehmen – vor allem, wenn er zunehmend darauf angewiesen ist, weil seine Jagdgründe langsam verschwinden. Doch trotz dieser Tatsachen hielten sich die Überfälle auf die Herden der Menschen in Grenzen. Zum einen, weil diese sich durchaus zu schützen wussten – zum anderen, weil Wölfe sich normalerweise von Menschen fernhalten, wenn sie es können. Es ist anzunehmen, dass ein guter Teil der gerissenen Tiere auf das Konto von verwilderten Haushunden ging und immer noch geht.
Wo Viehhalter auf eine gute Entschädigung von der Regierung hoffen können, wenn ihre Tiere gerissen werden, gibt es mehr Verluste, die gemeldet werden. Da der Wolf aber immer noch den Ruf des bösen und mächtigen Räubers hat, wird immer noch gerne zur Flinte gegriffen, wenn der Ruf "Wolf, Wolf" ertönt. Das hat allerdings mehr mit archaischen Ritualen zu tun als mit realen Bedrohungen, denn hierzulande ist es mangels Löwen nun mal ein Traum vieler gestandener Jäger sich als Bezwinger eines Graurocks fühlen zu können. Das wertet so schön auf, denn wer die Bestie meistert, ist stärker als sie.
Was die Gefährlichkeit angeht, so hat ein Verhaltensforscher einmal gesagt, dass er im Wald lieber einem Wolf begegnen würde als einem verwilderten Hund – der Wolf flieht den Menschen, der Hund aber hat diese Scheu verloren und ist eher zu einem Angriff bereit. Man konnte den Wölfen im Übrigen kaum Angriffe auf Menschen "nachweisen", die Geschichten sind meist erfunden. Tatsächlich sollen sie Schlitten verfolgt haben ... der Pferde wegen. Es ist auch nicht wirklich nachvollziehbar, denn zu jeder Jahreszeit ist ihr Tisch gedeckt, außer in Gegenden, wo der Mensch die Natur verdrängt hat. Doch sie sind Wanderer – trotz ihrer territorialen Bindung – und ziehen fort, wenn das Land leer wird.
Auf sonderbare Weise berührt uns der Wolf am stärksten, ob nun im Guten oder im Bösen. Weitaus angriffslustiger als Isegrim ist ein Wildschwein – ein wütender Keiler ist ein Gegner, den niemand wirklich haben will. Schlau, stark, schnell und sehr hartnäckig in der Verfolgung ist so eine Lokomotive auf kurzen Beinen. Vor Erfindung der Feuerwaffen gab es bei einer Sauhatz meist Verletzte oder sogar Tote unter den Treibern und Jägern. Aber niemals rückten diese Tiere so in den Fokus wie die Wölfe – es gibt so gut wie keine Legenden vom "bösen Keiler". Was also berührt uns gerade am Wolf so sehr, dass wir ihn entweder abgrundtief hassen und fürchten, oder ihm aber verfallen?
Die Indianer Nordamerikas sahen in den Wölfen übrigens Verwandte, von denen sie lernen konnten, sie bewunderten die soziale Struktur der Rudel und sahen allein deswegen die pelzigen Jäger als den Menschen nahe an. Aber wie auch immer, wer sich die Zeit nimmt, um sich mit ihnen zu beschäftigen, lernt sie zu schätzen und zu lieben – der Blick eines Wolfes hat nichts Böses oder Unheimliches, sondern etwas Berührendes.
Würden wir lernen, die notwendigen Flächen zu schaffen, damit die Natur walten kann, ohne dass wir zu sehr eingreifen und auf die Selbstheilung der Erde vertrauen, könnten wir die Wölfe wieder willkommen heißen. Würden wir die Flinten weglegen und die so gewonnene Zeit für wichtige Dinge nutzen, ließen wir den Wolf tun, wozu er geschaffen ist – dann wäre dies ein erster Schritt vorwärts in eine Zukunft. Denn es ist längst nicht mehr sicher, dass wir eine haben werden – dazu brauchen wir das biologische System der Erde. Stirbt sie zu einem Steinhaufen in der Galaxie ab, sterben wir alle.
© "Die Wölfe kommen zurück, unauffällig und leise" und "Der Jäger mit den magischen Augen: Ein Leben mit Wölfen": Essays von Winfried Brumma (Pressenet), 2015. Bildnachweis: Wolfszeichnung, CC0 (Public Domain Lizenz).
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