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Ein leichter Wind ist aufgekommen am Strom, als Fritjof Dieken nach seinen Reusen sehen will und in einer davon eine alte, silberne Taschenuhr findet. Das könnte natürlich ein Scherz sein, denn da gibt es einen Küstenbewohner, der Treibgut gegen Aale und andere nahrhafte Wasserbewohner tauscht. Wenn auch ohne den Besitzer der Reusen und Netze zu fragen. Aber bald wird dem Leser eine ganz bestimmte Symbolik offenbar, die dem Protagonisten erst einmal nicht bewusst wird.
Dieken ist zufrieden mit seinem Leben in dem Dorf am Fluss. Zwar hat er gerade den Tod seines bewunderten und geliebten Stiefvaters zu betrauern, aber der Alltag fordert eben sein Recht.
Diekens Leben wird nun anders werden, das ist ihm bewusst. Er wird vielleicht das Gasthaus – das einzige, das es hier gibt – schließen müssen. Sein Stiefvater hat es geführt und darin den Tod gefunden. Sein Herz hatte Protest eingelegt. Wahrscheinlich schon länger, unbeachtet und verdrängt, aber doch letztendlich unwiderruflich.
Ein ganz normales Leben fächert sich mit jedem Morgengruß und jeder kleinen Unterhaltung mit den Nachbarn und Freunden Diekens auf. Der Leser begleitet den Mann auf seinem Weg zurück nach Hause, in die Gaststube und bei seinen Gedanken. Lokalkolorit in unaufdringlicher Weise ist inbegriffen. Die ruhige, aber sehr eindringliche Erzählung lässt den Salzgeruch ahnen, als befände man sich in der Nähe der Küste. Und ebenso ruhig wird aus der Erzählung eine Art Fall.
Dieken ordnet die Papiere des Toten, findet durch Zufall ein Versteck, in dem Aufzeichnungen verborgen wurden. Und er findet Zeichen, die seiner bisherigen Welt ein Ende setzen. Grausamer als der Tod es je könnte.
Strandräuberei gab es an der Küste und am Fluss, wie überall auf der Welt, wo Schiffe fuhren. Wie man das auslegt, ist Gewissenssache. Man kann, nach einem Schiffsunglück, Dinge am Strand und am Ufer finden und für sich behalten. Obwohl das verboten ist. Man kann aber auch dem Schicksal etwas nachhelfen. Das wäre dann weitaus schlimmer als ein paar Töpfe oder Planken mitzunehmen, die im seichten Wasser liegen. Das wäre sehr viel schlimmer.
Dieken ist fassungslos. Denn die Aufzeichnungen, die er in Händen hält, zeigen ihm genau das. Das Schlimmere.
Zwei Gesichter hat ein Mann, der ihm, dem Jungen, nur eines davon gezeigt hatte. Das andere zeigt die Züge eines Spielers, der das Gewissen überlisten will, indem er das Schicksal selbst zu seinem Komplizen macht. Wenn viele Menschen sich ein Vergehen teilen, hat keiner eine Last zu tragen? Der hier liest etwas, dieser zeigt etwas, einer greift zu und hilft sogar, ein anderer aber tut gar nichts. Keiner tut etwas Schlimmes, und jeder kann sagen, was er getan hat. Aber die Summe der kleinen Dinge, die gesehen und getan, oder eben nicht getan wurden, ist ein Verbrechen. Man kann dies mit den verschiedenen Komponenten einer Säure vergleichen, die jede für sich allein völlig harmlos sind, zusammen aber tödliche Wirkung haben. Wer will die einzelnen Zutaten beschuldigen für das Endprodukt, das nicht einmal seine Wirkung entfaltet?
Dieken erfährt die Geschichte einer Havarie, die sich vor langer Zeit abgespielt hat, kurz vor dem erstaunlichen Aufblühen des Dorfes. Und er verabschiedet sich von dem Bild, das er hatte über lange Jahre.
Die sprachlich auf hohem Niveau komponierte Novelle von Matthias Schneider-Dominco ist wie ein besonders geformtes Treibholz. Stark und mit tiefen Rissen, die in das Innere führen. Eindringlich und bildhaft geschrieben, wie man das heute nur selten findet.
Die norddeutsche Novelle "Das havarierte Gewissen" ist Ende 2016 bei TWENTYSIX erschienen und liegt als 64-seitiges Taschenbuch vor. Im Handel ist die Erzählung von Matthias Schneider-Dominco auch als E-Book erhältlich.
© "Ein Mann mit zwei Gesichtern": Rezension von Winfried Brumma (Pressenet), 2017. Dem Autor Matthias Schneider-Dominco danken wir herzlich für das Coverbild und das Rezensionsexemplar.
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