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Ihren wirklichen Namen kannte eigentlich niemand, jeder nannte sie nur "Nachtigall". Meist trug sie dunkelblau oder grau, sie machte nicht viel mehr aus sich. Ihr Haar war mittelbraun und unauffällig, ziemlich kurz geschnitten und glatt. Eigentlich sah sie sogar aus wie der Vogel, von dem sie den Namen hatte – aber was besonders war an diesem Mädchen, war ihre Stimme, obwohl man die eigentlich nicht oft hörte, denn die Nachtigall beherrschte eine sehr selten gewordene Kunst: die des Zuhörens.
Irgendwie fand jeder den Weg zu ihr, ob es nun auf einer Studentenfete war oder im Hörsaal, im Freibad oder in der Mädchen-WG, in der sie wohnte. Fast jeder Freund, Bekannte oder die Freunde der Freunde und Bekannten war irgendwann einmal an ihrer knochigen Schulter gelandet, bildlich gesprochen. Sie stand in irgendeiner Ecke herum, ein Glas in der schmalen Hand und beobachtete die ausgelassenen Leute, wenn es eine Feier gab, lächelte vor sich hin und war fast unsichtbar in all dem Trubel.
Aber irgendwie endete es meist so, dass ein schluchzendes Mädchen oder ein tieftrauriger Junge bei ihr saß und den Kummer ausbreitete. Das ging wunderbar, denn sie sagte lange Zeit nichts und hörte einfach zu, die Augen aufmerksam auf ihr Gegenüber gerichtet. Ganz am Schluss, wenn ihr "Klient" erschöpft schwieg, sagte sie einige tröstende Worte mit ihrer wunderschönen Stimme. Und das machte es irgendwie gut für den anderen, der da vor ihr saß. Wer mit ihr gesprochen hatte, sah sie nicht gleich wieder, denn man musste sie suchen.
Und dann kam der Tag, an dem der "Kaiser" sie fand. Er hieß wirklich so, jedenfalls mit dem Nachnamen. Aber niemandem wäre es eingefallen, ihn anders zu nennen. Unter den Studenten war er so etwas wie ein Star, er schrieb nur die besten Noten und sah umwerfend aus. Er musste auch nicht jobben, denn seine Eltern konnten ihm das Studium mühelos finanzieren. Die Mädchen rissen sich um ihn und die Jungs suchten seine Freundschaft, denn er war freigiebig und ein guter Kumpel. Beides fiel ihm nicht schwer, denn er hatte mehr Geld in der Tasche als die meisten Kommilitonen, und er war sehr umgänglich, weil er niemals mit den Wünschen der anderen in Konflikt geriet. Jeder stimmte ohne Zögern seinen Vorschlägen zu – was der Kaiser wollte, wurde gemacht. Er ging mit den hübschesten Mädchen an der Uni aus, war nett zu ihnen und lud sie ein, nahm was man ihm bot und vergaß es wieder. Gedanken machte er sich keine darüber, denn niemand verlangte das von ihm.
Dann bekam er eine Nachricht von daheim, die ihn völlig verstörte. Sein Vater hatte einen Infarkt erlitten und lag auf der Intensivstation. Er solle nicht heimfahren, schrieb die Mutter – er könne im Moment nichts tun. Er ging aus, um die anderen zu treffen, und er versuchte diese Angst, die ihn gepackt hatte und mit der er nicht umgehen konnte, zu unterdrücken. Und während er abwesend die Wangen der Mädchen küsste und den Jungs auf die Schultern klopfte, nahm er dennoch nichts wahr, bis er plötzlich vor diesem Mädchen stand, das ihn nur ansah und ihm ein leises Lächeln schenkte. Er wusste nicht genau, wie es zugegangen war, aber plötzlich saß er in ihrem winzigen Zimmer auf dem Teppich und redete – er redete die halbe Nacht lang. Er erzählte Dinge, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass sie in ihm waren, Gefühle aus seiner Kinderzeit und Gedanken, die seinen Vater betrafen. Er redete und dann weinte er, hilflos wie einer, der nur Licht kennt und auf einmal im Dunkel steht ...
* * * Ende der Leseprobe aus "Jan und die Märchenbühne der Wunder" * * *
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© Textbeitrag "Das Mädchen Nachtigall und der Kaiser" (ein modernes Märchen): Winfried Brumma (Pressenet), 2009. Bildnachweis: Fantasy-Szene, CC0 (Public Domain Lizenz).
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