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Seit einigen Jahren gehörte er für mich zum Stadtbild, der alte Mann. Immer wieder sah ich ihn, wie er die Straße kehrte oder auf den Knien Unkraut jätete vor den Häusern. Ich habe ihn schimpfen gehört, wenn die Leute ihre Hunde ihr Geschäft auf den winzigen Grünflecken machen ließen, die er so akribisch pflegte. Niemanden interessierte das, man nahm ihn nicht ernst, übersah ihn, wie man alte Leute eben gerne übersieht.
Immer trug er einen Blaumann und hatte sein Fahrrad dabei, mit dem er auch seine Werkzeuge transportierte. Er muss wohl schon längst Rente beziehen, der Alte. Aber er ist es wohl nicht gewohnt, untätig zu sein. Viel springt sicher nicht für ihn heraus, bei den kleinen Hilfsarbeiten, die er macht. Wahrscheinlich tut er es auch nicht des Geldes wegen, dachte ich im Vorbeigehen. Oft sah ich ihn abends mit dem Rad die Straße entlangfahren, nach Hause wohl. Dann hatte ich ihn lange Zeit nicht mehr gesehen, ich war in ein anderes Viertel gezogen.
In den letzten Monaten begegnet er mir wieder öfter, er ist sehr gebrechlich geworden. Sein Rad schiebt er jetzt nur noch, fahren kann er nicht mehr damit. Langsam, fast wie in Zeitlupe, schiebt er den Drahtesel neben sich her, gebeugt und keuchend von der Anstrengung. Er stützt sich schwer darauf beim Gehen – es sieht fast aus, als könnte er ohne das Rad als Stütze gar nicht laufen und sich keinen Moment auf den Beinen halten, wenn es umfiele.
Ich will ihn nicht anstarren, aber ich bemerke, dass der Blaumann sauber ist, und das Rad nicht beladen. In dem Zustand, in dem er sich befindet, kann er unmöglich arbeiten, denke ich. Oder hat er doch irgendwo einen Hof gekehrt oder ein Beet geharkt, und schleppt sich jetzt todmüde und mit letzter Kraft nach Hause? Wo wohnt er überhaupt, und wartet jemand auf ihn? Diese Gedanken haken sich fest. Ich würde gerne wissen, wer er wirklich ist. Ich hätte gerne, dass er nicht in eine leere Wohnung oder ein einsames Zimmer heimkommt.
In meinen Gedanken entwickelt sich ein Szenario. Ein ächzender alter Mann, der lange braucht, um die Schuhe auszuziehen – wenn er einen geschafft hat, muss er eine Pause machen. Der Rücken macht ihm Probleme – hager ist er nicht, der Alte, eher vierschrötig. Er muss einmal sehr kräftig gewesen sein. Wenn er endlich seine Schuhe von den Füßen hat, ächzend und vielleicht schimpfend, macht er sich etwas zu essen. Das wird wohl auch nicht viel sein, er ist zu müde.
Dann stelle ich mir eine alte Couch vor und einen Fernseher. Mit seinem Teller hat er sich an den niedrigen Tisch gesetzt und bedächtig gegessen. Später legt er stöhnend die Füße hoch und sieht auf den Bildschirm. Nachrichten vielleicht oder ein alter Spielfilm, für ihn ist die Fernsteuerung ein echter Segen. Irgendwann schläft er ein. Vielleicht wacht er vor Mitternacht wieder auf und zieht seine Kleider aus, zerrt eine Decke über sich und schaltet das Gerät aus.
Kommt Hass in ihm auf bei den bunten Bildern, die er sieht – die ein Leben zeigen, das es für ihn nicht mehr gibt oder sogar nie gegeben hat. Oder freut er sich am Augenblick, wie einer, der nicht neidisch ist? Ist er Witwer, hat er Kinder? Oder war er immer jemand, der lieber für sich geblieben ist, der gearbeitet hat und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte? Einer, der nützlich sein will, der gebraucht werden muss. Weil er es so gelernt hat.
Ich hoffe, dass ich mich irre, und dass der Alte einen Menschen hat, der auf ihn wartet und das Essen warmhält.
In einem Altersheim lebt er sicher nicht, da würde man doch achtgeben auf ihn, oder? Man würde doch nicht zulassen, dass er sich so durch die Stadt schleppt?
Um seine Würde braucht er sich keine Sorgen zu machen, man sieht an ihm vorbei oder nach einem flüchtigen Blick in eine andere Richtung. Junge Leute gehen lachend und sich freundschaftlich schubsend die Straße hinunter – sie nehmen ihn nicht wahr.
Es ist wie eine Filmüberblendung, zwei Streifen laufen gleichzeitig. Ein rascher in Farbe und einer in Zeitlupe und schwarz-weiß. Zwei Zeitstränge. Dann hat der alte Mann die Steigung endlich überwunden und biegt langsam rechts ein. Ich sehe ihn nun nicht mehr und gehe in schnellerem Tempo weiter. Aber ich vergesse die Begegnung tagelang nicht, wie jedes Mal in der letzten Zeit.
Irgendwann wird er verschwunden sein, der Alte – und ich werde nur mutmaßen können, was geschehen ist, da ich nicht einmal seinen Namen kenne. Eigentlich brauchte ich ihn nur anzusprechen, aber ich weiß, dass ich es nicht tun werde.
© "Der namenlose Alte (Der Alte im Blaumann)": Essay von Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Bildnachweis: Alter Mann, CC0 (Public Domain Lizenz).
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