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Dieses Kind wird noch mein Tod sein. Dieses ungebärdige sonderbare Kind, das ich so sehr liebe. Jacques sagt immer: "Es ist deine Tochter. Es ist Frauensache, eine Tochter zu erziehen. Willst du, dass sie uns Schande macht?"
"Sie macht uns keine Schande, sie ist ein liebes Mädchen", sage ich dann. Aber er hat schon recht, mein Alter. Ich weiß noch, wie sie die Hütejungen verdroschen hat, weil sie etwas Dummes über unsere Heilige Jungfrau gesagt haben. Mon Dieu, wie hat sie die hergenommen. Ich musste mir da vieles anhören.
Ich hab zu ihr gesagt: "Kind, es sind doch nur dumme Buben, die nicht wissen, was sie sagen. Du weißt doch, dass sich solche Raufereien nicht schicken für ein Mädchen." Da hat sie mich angesehen mit ihren grauen Augen, dass mir angst und bange wurde vor dem Ernst darin. Gesagt hat sie nichts, mein wildes Töchterchen. Sie ließ nur widerwillig zu, dass ich ihre Schrammen auswusch, aber sie hat nicht einmal gezuckt. Da war sie acht Jahre alt, meine Kleine.
Jacques hat damals noch gelacht darüber, nicht gewütet wie heute. Nun macht er mir Vorhaltungen – er denkt, ich habe versagt bei ihrer Erziehung. Aber das stimmt nicht – nur, was soll ich tun mit einem Mädchen, das in jeder freien Minute wegläuft und mit unsichtbaren Geistern spricht. Ich bin ihr so oft nachgelaufen in den Wald und an den Bach, wo ich sie dann sitzen sah mit geschlossenen Augen und murmelnd. Das erste Mal, als ich sie so fand, hab ich sie geschüttelt. Gott helfe mir, solche Angst hatte ich.
Als sie die Augen öffnete, fragte sie mich nur: "Habt Ihr sie nicht gehört, Maman?" Da durchfuhr mich ein gewaltiger Schrecken, Gott steh mir bei. "Das Kind hat Fieber", dachte ich. Aber ihre Stirn war kühl, und als ich sie fragte, wen ich denn gehört haben sollte, sagte sie nur: "Die guten Damen." Da war sie zehn Jahre alt. Meinem Alten habe ich nichts davon gesagt, ich wollte ihn nicht aufregen. Ich ließ meine Augen nicht mehr von ihr, meinem Herzenskind, das so anders ist als alle anderen Kinder.
Aber einige Zeit geschah nichts, sie folgte mir in allem und die Jungfrau weiß, wie geschickt mein Mädchen ist, wenn es will. Sie lernte rasch, was ich ihr zeigte, aber dann fand ich das Spinnrad leer eines Tages und ich suchte sie wieder und fand sie auch. Und ich fragte sie, was die guten Damen denn gesagt hatten, als ich sie im Gras liegend fand mit einem lächelnden Gesicht. "Sie sagten, dass sie mich brauchen und dass ich zu ihnen kommen werde", war ihre verzückte Antwort. Ich hab sie nie wieder gefragt, aber seit dem Tag war ich verrückt vor Sorge.
Es ist nicht auszudenken, was geschähe, wenn jemand erführe, dass unsere Tochter mit Geistern spricht ... dass sie Stimmen hört. Es wäre unser aller Unglück. Aber ich weiß, dass nichts Böses ist an meinem Kind, nur ihr Temperament ist vielleicht nicht so, wie es bei einem jungen Mädchen sein sollte. Wahrscheinlich hat sie das von Jacques geerbt, der wütend werden kann wie ein Stier. Aber eine gute Seele ist er, mein Alter: Als er die überzähligen Welpen ertränken wollte und die Kleine sich schreiend und weinend an seine Arme klammerte, hat er ihr eine Ohrfeige gegeben. Aber die Welpen hat er ihr in die Schürze geworfen und ging hinaus.
Als er dann sah, wie die alte Hündin winselte vor Freude, als das Kind ihr die Kleinen wiederbrachte, hat er geweint, mein Jacques. Er ist keiner, der viel Worte macht, aber als sie stolz das erste selbst gebackene Brot vor ihn auf den Tisch stellte, und neben ihm stehen blieb, wie es der Brauch ist, da hat er ein Stück abgebrochen und ganz langsam gekaut. Dann hat er genickt und weitergegessen. Und als sie dann hinausging, folgten ihr seine Augen und er lächelte. An solchen Tagen dachte ich, dass alles gut werden würde mit ihr, dass ihre Sonderbarkeiten vergehen würden wie ein Sommerfieber, und dass alle Sorgen dann ein Ende hätten.
Doch dann geschahen wieder Dinge, die ich nicht verstand und die ihren Vater aufbrachten. Als sie so etwa fünfzehn wurde, geschah es immer öfter, dass sie plötzlich am hellen Tag mitten in ihrer Arbeit verharrte und den Kopf schieflegte. Dann lächelte sie, oder manchmal schüttelte sie auch den Kopf. Meist fiel das niemandem groß auf, aber mein Herz setzte jedes Mal aus, wenn ich es sah. Mein Kind ist so fromm und gottesfürchtig, wie man es sich nur wünschen kann, doch diese Stimmen machen mir Angst.
Ich wage nicht, es dem Priester zu sagen, er könnte etwas Schreckliches denken. Er kennt mein Kind nicht, wie ich es tue, und vielleicht würde er sie bedrängen und ihr Angst machen. Die Leute sprechen immer gleich von unguten Dingen, wenn etwas nicht so ist, wie sie es gewohnt sind, und zittern, als wäre der Gott-sei-bei-uns hinter ihnen her.
Ihre Kammer hat sie geschmückt wie zu einem Festtag, und sie hat mich um Wachsstöcke gebeten. Ein Tuch aus gutem Leinen hat sie mit ihren geschickten Fingern bestickt und damit einen kleinen Altar hergerichtet, vor dem sie stundenlang betet. Das fiel dem Gesinde auf, aber niemand findet etwas dabei. Man spricht über ihre Frömmigkeit, und das macht Jacques sehr stolz, und er spricht von Ehemännern. Jetzt, da sie sechzehn Jahre alt ist, erzählt er von diesem oder jenem, der ein wackerer Bursche und Sohn guter Eltern sei, aber sie lauscht nur und schüttelt dann lächelnd den Kopf. Herr Jesus, sie wird niemals heiraten, das weiß ich.
Sie vergisst die Reden ihres Vaters, sobald er aus dem Raum gegangen ist. Und sie hat wieder angefangen, in die Wälder zu laufen. Ich suche sie nicht mehr, ich bin viel zu langsam für sie. Aber ich bete ohne Unterlass zu unserer Heiligen Jungfrau, dass sie mein Kind beschützen möge.
Ich hatte einen Traum – einen Traum, in dem ich hinter ihr herlief im Wald. Ich rief ihren Namen, aber sie hörte mich nicht und ging auf ein Licht zu, das zwischen den Bäumen erglühte. Ein wunderschönes Licht war das, aber ich fühlte so tiefen Schmerz – ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde, wenn sie es erreichte. Aber dann drehte sie sich um und sagte zu mir, dass ich keine Furcht haben sollte, denn sie wäre ja nicht allein, die Heiligen wären bei ihr. Als ich erwachte, war mein Gesicht nass von Tränen und ich fuhr rasch in meine Kleider, um sie zu suchen. In ihrer Kammer kniete sie vor dem kleinen Heiligtum, das sie geschaffen hatte, und vom Fenster herein fiel ein früher Lichtstrahl auf ihr Haar, fast wie in dem Traum.
Ich zog sie in meine Arme und wir klammerten uns aneinander – wir wussten beide, dass sie fortgehen würde. Dahin, wo ihr Weg sie führen würde – der Weg, der ihr schon immer bestimmt war. Meine kleine Tochter, mein Stolz und meine Freude. Mein sonderbares und wundervolles Kind.
Sie wird fortgehen und nicht wiederkommen, das weiß ich. Aber jetzt halte ich dich, noch bist du mein, Jeanne.
Anmerkung: Isabelle Romée war die Mutter Jeanne D'Arcs. Sie erzählt hier ihre Geschichte – es ist Zeit, dass auch sie einmal zu Wort kommt. Über die Kindheit Johannas ist eigentlich nichts bekannt. Diese Geschichte hier könnte so gewesen sein – ... aber es könnte auch völlig anders gewesen sein.
© "Isabelle und Jeanne – Ein Stück Geschichte": Textbeitrag von Winfried Brumma (Pressenet), 2010.
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