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Vorwort: In meinen jungen Jahren war ich völlig vorurteilsfrei. Kaum zu glauben, aber es war so. Staunend hörte ich mir absonderliche Geschichten von Menschen an – auch von solchen, die ich heute kaum noch als solche bezeichnen würde.
Hier der erste Beitrag der "Geschichten über Menschen":
Ich kenne dich. Jedes deiner Worte könnte ich aussprechen, bevor du sie sagst, und ginge nie fehl.
Ich kenne dich:
Dein Vater hat euch Kinder geprügelt für den kleinsten Fehler. Respekt musstet ihr haben, Respekt vor seiner Allmacht. Die Mutter unterstand ihm in allen Dingen und wurde auch geprügelt. Aber ihr hattet Respekt, auch vor ihr. Weil ER das eingefordert hat.
Zwanghaft sprichst du vom Vater, dem Herrscher über deine frühen Jahre. Als von jemandem, der gut war und ein richtiger Mann, ein gerechter Mann. Zwanghaft verteidigst du die Prügel und die blutenden Lippen, ebenso wie die blutige Nase deiner Mutter, deiner Geschwister.
Du ahmst ihn nach, den Zerstörer deiner Kindheit. Du trinkst, seit du es ungestraft kannst. Männer trinken, Männer haben das Sagen. Wer trinkt, ist ein Mann.
Du hast einen Sinnspruch gelernt – einen der wenigen, die du kennst. Du wiederholst ihn, so oft du vom Vater erzählst: "Es hat mir nicht geschadet." Dieses Mantra überdeckt den Schmerz, der in dir steckt, und den du vergessen willst, vergessen hast. Aber das war deine Begegnung mit der Macht, der allumfassenden Macht. Und du warst immer klein, hattest keinen Teil daran.
Draußen, wo ER nicht war, da gab es andere Rituale und andere Dinge, da warst du nicht immer der Schwache.
Du hast an deinem Bildnis gebaut, der einzigen kreativen Arbeit, die du je gemacht hast. Dein Selbstbild hast du aus tausend Einzelteilen zusammengekleistert, bis es so war, wie du es sehen wolltest. Stark, mächtig, hüftschwingend und die Arme vom Körper weghaltend beim Gehen. Zum Zuschlagen bereit und zu muskelbepackt, um angelegt zu werden wie die Flügel eines Nestlings. Dass du das geblieben bist, ein Nestling in all den Jahren bis jetzt, hast du nicht begriffen.
Wenn einer stärker war, hast du ihm Respekt gezeigt, ohne deinen Status allzu sehr zu schädigen. Den Schwächeren konntest du Angst einjagen, manchmal auch Großmut zeigen. Diese Politik hat dich nicht schlafen lassen, dich beschäftigt. Deine Gedanken kreisen nur um dieses Reich, in dem ein Brauenheben, ein Spruch, eine Bewegung alles verändern können.
Ein Königreich aus Pappe, das jederzeit von Tränen aufweichen könnte. Aber geweint hast du ja nie mehr.
Du schlägst die Frau und versuchst, die Kinder nicht zu schlagen. Aber wenn ER die Oberhand gewinnt, dann drehst du durch. Dann schlägst du aus Angst zu. So als ob ER auf dich zukäme, so wie früher. Er hat gestraft, wenn du draußen nicht zugeschlagen hast. Er hat gestraft, wenn du Angst hattest und noch mehr, wenn ER Angst hatte. Und die hatte ER. Er kam aus der gleichen Hölle, die er dir bereitet hat.
Du suchst zwanghaft nach solchen, die unter dir stehen, wertloser sind. Frauen, körperlich schwächere Menschen, Homosexuelle und Menschen, die anders sind.
Womöglich hat dieser Mann aus der Türkei andere Rituale und du kennst seine Sprache nicht. Es könnte gefährlich sein. Der Spaghettifresser zeigt offen seinen Machismo – er weiß vielleicht etwas über Macht, das du nicht weißt. Die Muslime essen kein Schweinefleisch. Die Schwarzen aus Afrika wollen dir alles wegnehmen. Du hast nichts, aber wenn du etwas hättest, müsstest du es vor ihnen verteidigen. Du hasst sie dafür.
Du weißt nichts über sie, aber sie sind nicht wie du. Die Menschen, die durch die Fußgängerzone laufen, um einzukaufen, um mit ihren Familien durchzuschlendern; die Alten, die auf den Bänken sitzen und miteinander plauschen, die sind auch nicht wie du. Die sind unerreichbar für deine Wut und deine Spiele. Sie würden einander schützen oder von der Polizei geschützt werden.
Aber niemand wird den Schwulen oder das Schlitzauge schützen, wenn sie dir begegnen in der Nacht. Das weißt du. Weil die minderwertig sind, noch weniger wert als du. Immer hat ER dir gesagt, dass du wertlos bist, ein Schwuler bist, und dass du nie ein richtiger Mann sein wirst. Mit jedem Schlag hat er dir das gesagt: auf die Lippe, die Wange, auf das Auge. Auf die Seele tätowiert für immer.
Die wie du sind, die plauschen nicht auf Bänken, die sitzen auf harten Stühlen in einer Kneipe und erzählen sich Märchen aus ihren Pappkönigreichen, laut und rülpsend, um die Angst unten zu halten, die ihr eigener Teufel ihnen eingebläut hat für das ganze Leben.
Jede Sekunde eures Lebens kotzt ihr euch eure Lügen von Stärke und Härte vor, hebt eure Pappkameraden hoch und lasst sie immer wieder dieses einzige Stück spielen: "Dem habe ich es aber gezeigt. Der habe ich es gezeigt. Denen habe ich es gezeigt."
Ein Stück mit tausend Untertiteln, die in stetigem Wechsel über den Bildschirm eurer Selbstsicht huschen. Nicht einmal von euch selber wahrgenommen.
Manchmal glimmt ein "Wir" auf, kurz und von geringer Intensität. Es bedeutet, dass du nicht völlig allein bist. Nicht immer. Dieses kleine Wort umfasst die Kumpane beim Saufen, beim Zuschlagen, beim Armeschwingen. Aber es gibt mehr, das siehst du langsam. Du bist Deutscher. Und das heißt, dass die anderen Menschen doch nicht so verschieden sein können. Dass du trotz allem dazugehörst. Auch wenn dir die Sprache der Menschen im nächsten Viertel kaum bekannt ist, weil sie von Dingen sprechen, die du nicht kennst und nie gekannt hast. Weil sie andere Sorgen haben als die bösen Träume von IHM und der Rangordnung im Pit, den du nie verlassen kannst, weil ER dich darin gefangen hält. ER und vielleicht auch SIE, die du geliebt, aber mit jedem Jahr mehr verachtet hast, weil sie schwach war. Und weil du den Blick immer öfter abgewendet hast, um ihre Wunden nicht zu sehen. Was schwach ist, ist nichts wert. Nichts.
Es ist dein böser Traum, der dich gefangen hält seit langem. Aber du bist ein Mann. Ein deutscher Mann. Mehr wert als die anderen. Mehr wert als jeder, der dir Angst macht, weil du nichts über ihn weißt. Sein Land, seine Sprache, sein Glaube – alles ist fremd und bedroht deine zerbrechliche Lebensordnung, deinen wertlosen Rang, bedroht IHN und damit dich.
Es gibt dich nicht wirklich, es gibt nur ein leicht zerstörbares Abbild von dir. Das was übriggelassen wurde in dieser Kindheit, die geprägt und kaputtgeschlagen wurde von jemandem, der ein Produkt des gleichen Kerkers war.
Aber du hebst die Hand im Suff, um einen Mann zu grüßen, der dir – wie du glaubst – vielleicht die Angst genommen hätte, nach dem wenigen, das du von ihm weißt.
Du gehst vielleicht sogar auf die Straße, weil ihr viele seid und es um Kameradschaft geht. Das ist etwas, das dir gefällt. Weil es dich weniger allein macht. Aber allein seid ihr ja nie, denn hinter jedem von euch steht ein ER. Und so grölt ihr und marschiert mit schwingenden Armen einem riesigen Pappbild entgegen, das gemacht ist aus tausendmal ER.
Du bist niemand, aber trotzdem kenne ich dich. ...
Die "Geschichten über Menschen" setzen wir fort mit dem Beitrag "Du bist niemand, aber trotzdem kenne ich dich".
© Textbeitrag "Geschichten über Menschen: Ich weiß, wer du bist" von Ilona E. Schwartz, 12/2020. Bildnachweis: Silhouette eines Mannes mit Schirmmütze, CC0 (Public Domain Lizenz).
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