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Die "Geschichten über Menschen" begannen mit dem Beitrag "Ich weiß, wer du bist". Wer den ersten Teil verpasst hat, öffnet mit einem Klick ein neues Fenster.
Ich kenne dich, ich habe dich so oft gehört. Du hast dein Leben vor mir ausgebreitet, wie du es vor jedem tust. So als wäre es ein Trost, wenn viele davon wissen. Die es aber vergessen, sobald sie es gehört haben. Ich vergesse nicht, und ich sehe Antworten auf meine Fragen, die ich dir nie stellen werde. Nicht mehr.
Dein Vater starb kurz nach deiner Geburt, dein Stiefvater war ein böser Mensch. Die Mutter war schwach, hatte Angst vor dem Unversorgtsein. Das kleine Mädchen, das du warst, führte den Haushalt und kümmerte sich um die Kleinen, wenn alle auf Arbeit waren. Wenn ein Teller nicht richtig sauber war, gab es Ohrfeigen. Die Halbgeschwister hatten es besser, vor allem der Bruder. Es ging ihm gut, wenn sein Vater das uralte Spiel der Männerkumpanei durchspielte mit ihm. Er hatte die Erlaubnis, seine Schwestern zu befehligen und rührte nie eine Hand im Haushalt. Er war ja ein Junge, ein künftiger Mann und somit einer, der Befehle erteilt.
Das konnte umschlagen. Wenn er etwas ausgefressen hatte, wurde er hart geprügelt dafür. Und ob er etwas angestellt hatte, bestimmte sein Vater. Du warst nicht dumm, aber man ließ dir keine Chance zwischen Haushalt, Geschwisterversorgung und Schule. Was brauchen Mädchen denn Schulbildung? Die sind sowieso blöd.
Ein unguter Dunst lag über dieser Kindheit, die eigentlich keine war. Weil du die Erstgeborene warst, die von einem anderen Vater gezeugt wurde. Das hätte nie jemand zugegeben, doch jeder hielt dich für minderwertiger als sich selber – und die Mutter schwieg. Sie wurde krank und mit jedem Jahr abhängiger.
Du trafst den Mann deines Lebens, der mit einer klammernden Mutter geschlagen war und auch nicht gesund – ein gutmütiger Junge, der sich nicht entscheiden konnte, bis du einen Selbstmord versucht hast.
Und als Ehefrau bist du gerannt, immer gerannt. Du hast dich um deinen Mann gekümmert, der seit einem Unfall in der Kindheit Epilepsie hat. Du hast die Mutter versorgt, obwohl sie mit Sohn und Ehemann zusammenlebte. Du hast die Kinder deiner Halbschwester großgezogen. Du hast selber keine Kinder, das ist eine alte Wunde, weil dich das in deinen Augen wertloser macht und der perfekte Grund dafür war, dich zur jederzeit bereiten Babysitterin zu machen. Zu jeder Tageszeit und an jedem Wochentag. Du hast geputzt und gewienert und geschrubbt und gekocht. Sauberkeit war in dich hineingeprügelt worden, war das Maß aller Dinge für dich. Das wusstest du eigentlich besser, aber du hast dich nicht gewehrt.
Und von Jahr zu Jahr bist du grimmiger geworden, hast mehr gejammert und gezetert. Über alles und jeden, beim kurzen Innehalten im Gang zur Mutter, um dort den Haushalt zu besorgen. Beim Gang zur Schwester, um die Kinder abzuholen. Deinen Mann hast du verwöhnt, vielleicht sogar mehr als er wollte, und hast gejammert darüber, dass du ihn verwöhnst.
Die Mutter starb und hinterließ dir ihren völlig unselbstständigen Sohn, der nicht besonders intelligent, dafür aber ein Mann ist und glaubt, dir befehlen zu können. In deiner Wohnung, vor deinem Mann. Du hast noch eine durch eine schwere Hausgeburt behinderte Schwester, die jetzt in einem Heim lebt und die du zweimal im Monat zu dir nach Hause holst. Vater und Bruder mussten nur anrufen, und du bist gerannt – gerannt, um ihnen Essen zu bringen oder den Abwasch zu machen. Eine Dienstmagd warst du und nicht mehr. Und wo du keine warst, hast du dich dazu gemacht. Als auch der Stiefvater starb, klammerte sich der Bruder völlig an dich. Und dein Mann stand mehrere schwere Operationen durch.
Ich weiß nicht, wann es anfing, aber zuerst waren es die "Russen". Die Aussiedler, die am Arbeitsplatz erschienen und von denen welche in das Haus zogen, in dem du wohntest. Da gab es Krawall mit einem ständig besoffenen Mieter, der sich nachts gerne einmal in der Wohnungstür irrte und auch gewalttätig wurde. Die Aussiedler-Frauen auf der Arbeit hast du akzeptiert, die waren freundlich und gute Kollegen. Da hattest du noch Unterschiede gesehen.
Wenn man dich traf, hast du gezetert und geschimpft, über die Familie und die Bekannten, hast über jeden etwas zu sagen gehabt und nichts Gutes. Du hast alles für sie getan, aber du hast es ihnen vergolten mit Bitterkeit. Du wurdest gefragt, warum du dich ausbeuten lässt, immer rennst und immer für andere. Diese Frage prallte an dir ab. Wie alle Fragen im Laufe der Zeit.
Auf der Straße bleibst du stehen, freust dich wahrscheinlich sogar darüber, einen Bekannten zu sehen. Man braucht nicht zu fragen, du spulst die Liste deiner schmerzhaften Befindlichkeiten und Krankheiten ab, ohne sichtbar Atem holen zu müssen. Eine eingeworfene Bemerkung des Gegenübers tust du mit einem hastigen "jaja" ab und weiter geht es mit Anklagen, den immer gleichen Anklagen gegen alle, die dir etwas antaten und deren treue Komplizin du immer warst.
Dann schlägt es um in Hass, wenn du von "Ausländern" sprichst, oder besser gesagt: zischst. Du nennst sie alle "Ausländer" – du hast kein anderes Wort für Menschen, die aus einem anderen Land kommen. Du erkennst keinen Grund für die Flucht an, du erzählst sonderbare Geschichten über das viele Geld, das die kriegen und was die alles haben. Du fühlst dich als Frau belästigt. Obwohl das nie vorgekommen ist, fühlst dich bestohlen und betrogen. Das war schon immer so, aber jetzt hast du endlich die wahren Schuldigen gefunden.
Ich weiß, dass du nicht wirklich diese Menschen meinst, sondern alle Menschen. Es waren Menschen, die deine Kindheit zerstört haben. Es waren Menschen, die dich zum Arbeitstier gemacht haben, und es waren Menschen, die dich niemals als vollwertiges Familienmitglied anerkannt haben. Du weißt das, aber es ist wie eine besondere Art des Stockholm-Syndroms, das dich daran hindert, die Fesseln abzuwerfen.
Du brauchst ein Ventil für all deinen über Jahre angestauten Hass, und du verlagerst das. Es ist so schlimm geworden, dass man dich bitten musste, ein Krankenzimmer zu verlassen. Du hast einen alten Bekannten bösartig angegriffen, weil er "ja schon immer für die Ausländer war". Zufällig war er Zimmergenosse deines Mannes im Krankenhaus und wollte dich beruhigen, als deine Tirade immer lauter und übler wurde. Er schleppte sich dann vor die Türe, um nicht mehr zuhören zu müssen – ein Pfleger kam dazu und kümmerte sich.
Dein Hass wird gefährlich, deine Verbitterung toxisch seit langer Zeit. Man kann dir nicht mehr in die Nähe kommen, weil du wie eine Maschine Hass auswirfst. Du spuckst in stetem, fauligem Strom die unverdauten Reste deines Elends aus, weidest dich daran und zerrst nicht einmal mehr an der Kette, die du selber mit angelegt hast. Der Schlüssel zu diesem Schloss ist verloren und du bellst und geiferst wie ein misshandelter Kettenhund.
Dein Mann ist sehr krank, du kannst nur für kurze Zeit aus dem Haus und willst es auch nicht. Aber wenn du es könntest und wolltest, dann würdest du mit denen laufen und den Arm ausstrecken im Gedenken an einen noch böseren Übervater, der deinesgleichen ebenso verachtet hat, wie es deine Familie tat.
Und du würdest Menschen brennen sehen wollen.
Ich will dich nicht mehr kennen. ...
Die Reihe der "Geschichten über Menschen" setzen wir fort mit diesem Beitrag: "Ich dachte, ich wüsste wer du bist".
© Textbeitrag "Geschichten über Menschen: Du bist niemand, aber trotzdem kenne ich dich" von Ilona E. Schwartz, 12/2020. Bildnachweis: Unheimliche Frau, CC0 (Public Domain Lizenz).
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