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Mit dem Beitrag "Ich weiß, wer du bist" begannen wir diese Reihe über Menschen und ihre Geschichten. Wer zuvor den ersten Teil lesen möchte, öffnet mit einem Klick ein neues Fenster.
Ich habe dich schon oft gesehen. Sogar mit dir gesprochen, dann und wann. Du fällst nie auf, du bist immer konform. Eine angenehme Person. Niemals laut und immer adrett. Du bist die Nette, die lächelnd abwehrt, wenn man sich für das Kind entschuldigt, das wieder überall hinguckt, nur nicht auf den Weg und dich aus Versehen rempelt. Oder wenn der Hund begeistert an dir hochhüpfen will.
An der Obsttheke im Markt machst du bereitwillig Platz, wenn man wieder einmal in Eile ist. Du bist der Mensch, der immer fremde Pakete annimmt und sie persönlich abliefert. Kinder magst du und auch Hunde, immer bist du zu einem Schwätzchen bereit.
Heimelig machst du das Viertel, der Tag fängt gut an, wenn man auf dem Weg zur Arbeit oder sonst wohin deinen freundlichen Gruß hört. Manchmal bleiben wir kurz stehen und reden über das Wetter und wie es ist oder sein sollte. Das ist perfekt normal, fast altväterlich in einer sich rasant verändernden Welt.
Es hat etwas Heimeliges, so wie die Erinnerung an geschenkte Bonbons beim Friseur oder die Wurstscheibchen beim Metzger, als man noch klein war und die Eltern einen ermahnten, "Dankeschön" zu sagen.
Du bist der freundliche Hausmeister, der immer etwas in petto hat, wenn er gebraucht wird, und der auch gerne einmal improvisiert, bis der Klempner kommen kann. Und immer lustige Sprüche auf Lager hat.
Man hat sich gewöhnt, hat sich eingekuschelt in deine allpräsente Gegenwart. Und dann kommt der Tag, an dem der Himmel grau wird. So wie vor einem Gewitter. Und wo du weißt, dass ein Stück davon für immer so bleiben wird.
"Die kriegen alles", sagst du zu einer jungen Mutter und schaust auffällig zu einer Familie, die augenscheinlich "nicht von hier" ist. Als ein Rentner über seine Probleme mit dem Geld spricht, machst du einen Witz: "Ziehen Sie sich ein Kopftuch über, dann kriegen sie alles in den Hintern geschoben." Es sind nur ein paar Worte, aber man weiß, dass ein Stück Freude verschwunden ist. Für immer. Und man geht dir aus dem Weg. Und schämt sich dafür, es nicht bemerkt zu haben.
Man könnte ja fragen, woher du das wissen willst. Könnte auf deine pralle Einkaufstasche zeigen und fragen, woran es dir mangelt. Man könnte sogar fragen, was Kopftücher mit geringer Rente zu tun haben. Aber die Antworten kennt man schon. Manchmal schreckst du zurück und tust es mit einem Lachen ab, manchmal lässt du die Hemmungen fallen und sprudelst Gülle heraus. "Man ist ja seines Lebens nicht mehr sicher, wenn die alle hier reingelassen werden." Und nicht einen Moment machst du irgendeinen Unterschied. Du kennst nicht einmal die Herkunftsländer, du hast nicht die geringste Ahnung von den Gründen dafür, dass "die hier herumlaufen".
Aber sie scheinen dir fremd, weil ihre Haut fast so braun ist wie die deiner Tochter, die dreimal in der Woche auf der Sonnenbank liegt. Weil sie Tücher auf dem Kopf haben, wie vor nicht allzu langer Zeit alle Frauen hier in deiner Heimat. Weil sie andere Kleidung tragen, die keinen Blick auf Nabelpiercings zulassen. Keine engen Hüllen über schwabbeligen Hüften und Schenkel, alles bereitwillig in der Auslage gezeigt. Weil sie eine andere Religion haben, die deiner doch zum Verwechseln ähnlich ist. Und weil es dir Angst macht, wenn du sie sprechen hörst, weil du die Worte nicht verstehst. Deine Welt ist so klein, dass es in ihr keinen Raum für Abweichungen gibt. Und auch sonst für nicht viel.
Dann höre ich dich mit irgendjemandem reden, du bemerkst mich nicht und du breitest aus, was du weißt. Nicht nur über "die", sondern über alle. Die Frau mit den Kindern. Den Mann mit dem Einkaufstrolley. Die jungen Leute im Viertel. Die Familie im Erdgeschoss. Und es ist niemals etwas Gutes. Nicht ein einziges Mal. Ich gehe weiter, denn ich bin vermutlich auch Teil deines Wissensschatzes. So ist das immer gewesen. Und ich habe es nie bemerkt. Gekannt habe ich dich nie. Und das ist gut so. Das weiß ich jetzt.
Werden die "Geschichten über Menschen" fortgesetzt? Vielleicht. Wer jetzt mehr lesen möchte, geht hier zurück zum zweiten Teil "Du bist niemand, aber trotzdem kenne ich dich".
© Textbeitrag "Geschichten über Menschen: Ich dachte, ich wüsste wer du bist" von Ilona E. Schwartz, 03/2021. Bildnachweis: Puppe mit beschädigtem Kopf, CC0 (Public Domain Lizenz).
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