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(29.08.2022) Kriege sind immer auch ein kollektives Großereignis, in dem die unzähligen Einzelschicksale in der Opfermasse namenlos untergehen. Es sind Menschen, wie man selbst, mit einem ganzen Leben voller einzigartiger Erlebnisse, Erfahrungen, Talente, Sehnsüchte, Hoffnungen und einem Herz voller Liebe für seine Kinder und Nächsten, das in einem Wimpernschlag des Schicksals endet, in dem die durch den Krieg entfesselte Gewalt aller Zukunft unvermittelt ein plötzliches Ende setzt.
Mit einem Menschen, der es geschafft hat, der Todesgefahr zu entkommen, habe ich gesprochen. Es ist Yuliia Sevastianova, die am 21. März mit ihren zwei Söhnen (5 und 2 Jahre alt) und ihrer 55-jährigen Mutter nach Deutschland geflohen ist. Was Yuliia auf meine Fragen antwortete, ist in den folgenden Zeilen zu lesen und für mich zum Teil kaum vorstellbar.
Yuliia berichtet über den Kriegsausbruch in der Ukraine, sowie ihre Flucht nach Deutschland im März 2022. Die Fragen stellte Christian Sünderwald:
Am Morgen des 24. Februar – ich lag noch im Bett – hörte ich plötzlich außergewöhnliche Explosionen, dachte mir aber noch nichts weiter dabei, zumal sie relativ weit weg schienen.
Kurz darauf rief mich meine Mutter völlig ausgelöst an und sagte, der Krieg habe begonnen.
Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich überhaupt wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
Ich dachte zuerst, ich muss unbedingt ruhig bleiben, ich kann nicht in Panik geraten; ich habe kleine Kinder und sie haben nur mich. Dann wurde mir bewusst, dass ich sofort alles tun muss, um von meinen Kindern jede Gefahr, so gut es geht, fernzuhalten. Auch sollten sie so wenig wie möglich selbst realisieren, was es bedeutet, mitten im Krieg zu sein, ohne das schon selbst vollends begriffen zu haben.
Ich hatte tatsächlich keine Angst.
Ich habe die Geräusche aus den Luftangriffen mit den vielen Raketeneinschlägen zwar gehört, aber ich konnte nicht realisieren und wohl auch nicht akzeptieren, dass das in meinem Land und in meiner Stadt passiert, in der ich gestern noch völlig friedlich lebte.
Die Menschen reagierten sehr unterschiedlich. Einige verharrten in Apathie und waren unfähig zu realisieren, was da um sie herum passiert.
Viele flohen schon in den ersten Tagen des Krieges, gerade mal mit dem, was sie mit sich tragen konnten.
Wieder andere verbrachten Tag und Nacht an dem Ort, an dem sie sich zuerst in Sicherheit gebracht hatten, der meist in einem Keller oder einem U-Bahn-Schacht bestand.
Einige meiner Nachbarn und ich hatten sich einen Platz im Keller unseres Wohnhauses notdürftig eingerichtet. Dort verbrachten wir die meiste Zeit des Tages. Auch schliefen meine Mutter, meine beiden Kinder und ich dort.
Das Leben in unserem provisorischen Luftschutzkeller zu verbringen, wirkte sich schnell schlecht auf die Gesundheit aus. So begann mein ältester Sohn jeden Tag stark zu husten. Auch das gab den Ausschlag für den Entschluss, zu flüchten.
Am 21. März bin ich mit meinen Kindern und meiner Mutter schließlich mit dem Zug nach Deutschland geflohen.
Die Abbildungen zeigen die Familie Sevastianova:
– Einzeln oben: In einem provisorischen Luftschutzbunker während eines Luftangriffs in Kiew
...sowie die dreiteilige Foto-Collage:
– Im Bus auf dem Weg zum Bahnhof | Warten auf die Abfahrt des Zuges | Nach der Ankunft in Deutschland (Chemnitz)
Auf der Fahrt hatten wir immer wieder große Angst, da wir teilweise durch stark umkämpfte Gebiete gefahren sind und vom Zug aus viel Zerstörung gesehen haben, wie ausgebrannte Autos, zerschossene Panzer und zum Teil auch Leichen auf der Straße.
Wir saßen in einem ganz normalen Personenzug, der vor wenigen Wochen noch durch eine schöne und friedliche Landschaft gefahren ist und jetzt mitten durch ein lebensgefährliches Kriegsgebiet.
Das Leben in Deutschland ist für mich und meine Kinder nicht einfach.
Die mir absolut fremde Sprache, die doch andere Kultur und nicht zuletzt die vielen unverständlichen Formulare, die ich auf den verschiedenen Ämtern immer wieder ausfüllen muss, machen es mir nicht leicht. Auch meine Kinder finden aufgrund der Sprachbarriere nur schwer Anschluss.
Da ich in Kiew fast alles zurücklassen musste, fühle ich mich ein bisschen als mittelloser Bittsteller, obwohl ich in Kiew als Fotografin und Marketing-Expertin beruflich sehr erfolgreich war.
Andererseits erfahre ich bis heute sehr viel Hilfsbereitschaft und Unterstützung. Dafür empfinde ich viel Dankbarkeit, die auch das Heimweh erträglich macht.
Natürlich habe ich regelmäßigen Kontakt mit meiner Familie und meinen Freunden. Viele von ihnen dienen in der Armee oder sind ehrenamtlich tätig für vom Krieg betroffene Menschen.
Besonders die vielen ehrenamtlichen Helfer haben meinen großen Respekt, sind sie doch häufig selbst vom Krieg betroffen und helfen trotzdem zusätzlich anderen, weiterhin zurechtzukommen.
Ja, das steht für mich außer Frage. Ich möchte unbedingt in meine Heimat zurückkehren. Schwer zu ertragen ist leider die Ungewissheit, wann das sein wird bzw. sein kann.
So dankbar, wie ich für all die offenen Arme bin, die uns hier herzlich aufgenommen haben, so sehr bin ich letztlich doch "unfreiwillig" in Deutschland.
Ich wünsche mir zurzeit nichts mehr, als dass der Krieg bald vorbei ist und ich in mein altes Leben zurückkehren kann.
Beachten Sie von Christian Sünderwald auch: Wozu sind Kriege da? In seinem Foto-Essay beleuchtet er, warum Kriege entstehen und wozu sie genutzt werden.
© Das Interview zu "Und plötzlich ist Krieg. Portrait eines Einzelschicksals" führte der Autor und Fotograf Christian Sünderwald mit Yuliia Sevastianova im August 2022.
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