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Elias war ein Einzelgänger, der oft am Flussufer saß und die Wasseroberfläche betrachtete, als wäre sie ein Portal zu anderen Dimensionen. Der alte Mann war dort oft, eine Stunde von der nächsten Stadt entfernt. Sein graues Haar umrahmte ein wettergegerbtes Gesicht, in dem die Falten wie tief eingegrabene Flüsse die Geschichten seines Lebens erzählten. (Read this in English)
Eines Abends, als der Himmel sich in ein schillerndes Orangerot verwandelte, bemerkte Elias auf der anderen Seite des schmalen Flusses eine seltsame Erscheinung. Eine schattenhafte Gestalt bewegte sich in der Dämmerung. Die Luft schien zu vibrieren, als stünde die Zeit selbst für einen kurzen Moment still.
Elias fühlte sich von einem geheimen Ruf angezogen und beschloss, der Erscheinung zu folgen. Als er den seichten Fluss durchquerte, warf das Wasser glitzernde Reflexe auf seine Haut. Auf der anderen Seite angekommen sah er die Gestalt nun deutlicher. Es war ein Kind, das mit einer seltsamen, leuchtenden Kugel spielte. Der Anblick des Kindes war beruhigend und verwirrend zugleich. Es schien, als sei es in einer anderen Welt gefangen, während die Kugel in seinen Händen pulsierte, als schlüge dort das Herz des Universums.
"Wer bist du?", fragte Elias. Seine Stimme zitterte vor Neugier, die sich mit Furcht mischte.
"Ich bin der Wächter der Gedanken", antwortete das Kind mit einer Stimme, die sanft und doch voller Weisheit klang. "Jeder Gedanke, den du denkst, hat ein Gewicht. Jede Entscheidung, die du triffst, hat ein Echo."
Elias war fasziniert, aber auch skeptisch. "Wie kann ein Gedanke ein Gewicht haben?"
Das Kind lächelte geheimnisvoll und warf die Kugel in die Luft. Sie schwebte, blinkte und verwandelte sich in tausend Lichter, die wie Sterne am Himmel leuchteten. "Sieh hin, alte Seele! Jeder Gedanke, den du hegst, beeinflusst die Welt um dich herum. Das Licht, das du siehst, ist das Ergebnis von Entscheidungen, die du und andere getroffen haben."
Elias dachte über sein Leben nach. Viele Entscheidungen hatte er getroffen. Einige waren weise gewesen, andere hatte er bereut. "Ich habe oft darüber nachgedacht, was ich hätte anders machen können. Aber die Vergangenheit ist vorbei."
"Die Vergangenheit lebt in dir, aber sie kann nicht die Zukunft bestimmen", erwiderte das Kind. "Jeder Tag bietet dir eine neue Gelegenheit. Du kannst entscheiden, wie du dein Licht leuchten lässt."
Plötzlich überkam Elias ein tiefes Gefühl der Ehrfurcht. Er erinnerte sich an die Momente, in denen er gezögert hatte. Und an die Chancen, die er verpasst hatte, aus Angst vor dem Unbekannten. "Aber wie kann ich meine Gedanken lenken?"
Das Kind neigte den Kopf, wieder erschien die Kugel in seiner Hand. "Indem du deine Ängste zulässt und dir erlaubst, zu träumen. Deine Gedanken sind die Saat, die du pflanzt. Lass sie blühen!"
Elias wollte mehr wissen, wollte die Geheimnisse des Universums ergründen. Doch gerade als er zu fragen begann, glich die Szene einem verblassenden Traum. Die Farben verschwammen - das Kind, die Kugel, der Fluss. Alles hüllte sich in Nebel.
Plötzlich stand Elias wieder am ursprünglichen Ufer des Flusses. Die Dämmerung war hereingebrochen. Überwältigt von dieser Begegnung kehrte er in die Stadt zurück. Doch für Elias war nichts mehr wie zuvor. Die Worte des Kindes hallten in seinem Kopf nach und ließen ihn nicht mehr los.
In den folgenden Tagen begann er, sein Leben zu ändern. Er beobachtete seine Gedanken, sprach sie laut aus, wenn er allein war, und ließ sie fließen wie das Wasser eines Flusses. Er begann, mit Menschen zu sprechen, die er zuvor ignoriert hatte, und er erkannte die Kraft ihrer Geschichten. Jeder Mensch war wie ein kleiner Spiegel, der ihm eine neue Perspektive auf seine eigenen Gedanken gab.
Doch nicht alle wollten ihm zuhören. Einige seiner Mitbürger lebten in einer Blase aus Routine und Bequemlichkeit. Sie schauten ihn an, als wäre er ein Narr, wenn er von seiner Begegnung erzählte. "Der Alte hat den Verstand verloren", tuschelten sie hinter vorgehaltener Hand.
Elias ließ sich davon nicht entmutigen. Als er merkte, dass seine eigene Veränderung allmählich auch die Menschen um ihn herum beeinflusste, fand er einen neuen Sinn im Leben. Er erkannte, dass das Licht, das er in die Welt brachte, ansteckend war. Immer mehr seiner Nachbarn begannen, Fragen zu stellen und sich für seine Gedanken zu interessieren.
Und eines frühen Abends setzte sich Elias wieder an den Fluss und wartete auf die Rückkehr des Kindes. "Was, wenn es nur ein Traum war?", dachte er. Die untergehende Sonne warf goldene Strahlen auf die Wasseroberfläche, und Elias spürte eine Präsenz. Plötzlich erschien die Gestalt wieder, das Kind mit der schimmernden Kugel.
"Du hast begonnen, das Gewicht deiner Gedanken zu erkennen", sagte das Kind. "Viele werden dich bald verstehen, aber einige werden immer in der Dunkelheit bleiben."
"Kann ich ihnen helfen, das Licht zu sehen?", fragte Elias verzweifelt.
"Vielleicht. Aber vergiss nicht: Du kannst nur das Licht in dir nähren. Jemand anderes muss sein eigenes Licht finden."
Diese Antwort ließ Elias nachdenklich zurück. Er verstand, dass jeder seinen eigenen Weg gehen musste und dass er niemanden zwingen konnte, das zu erkennen, was er entdeckt hatte. Doch er wusste auch, dass er weiter daran arbeiten konnte, eine Quelle der Inspiration zu sein.
Die Zeit verging, und Elias wurde oft in der Stadt gesehen, wo er Kindern Geschichten erzählte und mit älteren Leuten diskutierte. Immer mehr Menschen interessierten sich für die Gedankenwelt, die er eröffnet hatte. Es war ein langsamer, mühevoller Prozess, aber die Veränderungen waren spürbar.
Eines Morgens, als er am Fluss saß, kam ein kleines Mädchen zu ihm gelaufen und hielt ihm einen Stein hin. "Siehst du? Ich habe einen Wunsch. Ich wünsche mir, dass ich eines Tages fliegen kann!"
Elias lächelte. "Da sind wir schon auf dem richtigen Weg. Was meinst du, was du dafür tun musst?" Und das Mädchen lachte und sprudelte über vor Ideen. In diesem Moment erkannte Elias, dass die Saat der Hoffnung, die er gepflanzt hatte, zu blühen begann.
Und so lebte Elias weiter, beständig im Austausch mit seiner Umgebung, während die imaginäre Gedankenkugel in den Herzen der Menschen um ihn herum zu leuchten begann. Jede Entscheidung, jeder Gedanke wurde Teil eines größeren Ganzen.
Die geheimnisvolle Begegnung am Fluss war nicht das Ende, sondern der Anfang eines neuen Kapitels. Ein Kapitel, in dem die Menschen lernten, Verantwortung für ihr Denken und Handeln zu übernehmen und so die Welt um sie herum zu gestalten.
© "Elias und der Wächter der Gedanken. Eine geheimnisvolle Begegnung am Fluss": Eine Kurzgeschichte von Izabel Comati, 03/2025. Die Abbildung zeigt einen Jungen mit einer leuchtenden Kugel, CC0 (Public Domain Lizenz).
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