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In einem kleinen verschlafenen Dorf namens Zeithain schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Menschen lebten in einem harmonischen Gleichgewicht zwischen Arbeit und Muße.
Doch an einem Donnerstagmorgen geschah etwas, das das ganze Dorf auf den Kopf stellte: Ein alter, abgenutzter Krug begann plötzlich zu fliegen. (Read this in English)
Der Krug gehörte der alten Frau Wilhelmine, einer legendären Geschichtenerzählerin, die oft am Marktplatz an einem Tisch saß und den Kindern Märchen erzählte. Wilhelmine war auch bekannt für ihren Sinn für Humor und ihre tiefsinnigen, philosophischen Anekdoten.
Und so konnten an diesem Morgen viele Menschen sehen, wie der Krug sich von selbst vom Tisch erhob und durch die Luft schwebte. Es war ein Bild, das selbst die skeptischsten Dorfbewohner in Staunen versetzte.
"Das ist aber ein seltsames Schauspiel", rief der Bäcker Friedrich aus, während er mit seinem Teig hantierte. "Was hat das zu bedeuten?"
"Vielleicht wollte der Krug mal raus", lachte ein kleiner Junge, der sich gerade einen Keks stibitzt hatte.
Der Krug schwebte in sanften Bögen über den Dächern des Dorfes und schien seine eigene Bestimmung zu haben. Für viele war es ein Zeichen, das aber niemand deuten konnte. Einige spekulierten über ein übernatürliches Phänomen, andere meinten, der Krug habe einfach nur Spaß, so wie sie selbst in ihrer Jugend.
Der Dorfälteste, Herr Bockelmann, ein ernster und nachdenklicher Mann, war davon überzeugt, dass der fliegende Krug eine tiefere Bedeutung hatte. Er rief die Dorfbewohner zusammen und forderte sie auf, über das Geschehene nachzudenken. "Was ist, wenn der Krug uns etwas sagen will?", fragte er mit ernster Miene. "Was, wenn er uns daran erinnert, dass das Leben mehr ist als Routine und Pflicht?"
In den folgenden Tagen wurde der Krug zum Gesprächsthema Nummer eins im Dorf. Jeden Morgen versammelten sich die Menschen um Wilhelmine, um den neuesten Flug des Kruges zu bestaunen. Jedes Mal, wenn er sich in die Lüfte erhob, schien er die Menschen in seinen Bann zu ziehen, und sie diskutierten darüber, was das wohl bedeuten könnte.
Der Lehrer Jakob, ein leidenschaftlicher Denker, sagte: "Vielleicht ist der Krug eine Metapher für unser eigenes Leben. Er zeigt uns, dass wir uns von der Schwere des Alltags befreien können, wenn wir nur den Mut haben, anders zu denken." Er sprach von der Freiheit des Geistes und der Möglichkeit, alte Denkmuster abzulegen.
Aber nicht alle stimmten ihm zu. Die skeptische Metzgerin Margaretha murmelte hinter ihrem Stand, das sei doch alles Trug. "Das Leben ist hart und nichts fliegt einfach so in den Himmel!"
Doch eines Tages, während der Krug durch den Himmel schwebte, geschah etwas Unerwartetes. Der Krug flog direkt auf das Haus des alten Uhrmachers Hector zu, der bekannt dafür war, das Geheimnis der Zeit zu hüten. Völlig unerwartet landete der Krug sanft auf Hectors Dach.
Hector, der trotz seines Alters noch immer voller Tatendrang war, sprang auf und kletterte auf das Dach, um nach seinem neuen fliegenden Freund zu sehen. Als er sich dem Krug näherte, ihn anhob und genauer betrachtete, bemerkte er eine Inschrift auf dem Boden des Kruges: "Die Zeit ist das, was wir daraus machen."
Diese Worte klangen in Hectors Kopf nach. Sofort begann er darüber nachzudenken, was Zeit für ihn bedeutete. War es nur das Ticken einer Uhr oder waren es die Erfahrungen und die Erinnerungen, die wir im Laufe unseres Lebens sammeln? Er spürte, wie eine tiefe Erkenntnis in ihm aufstieg: Vielleicht ist es die Art und Weise, wie wir die Zeit nutzen, die unser Leben wirklich prägt.
Hector versammelte alle Dorfbewohner auf dem Marktplatz und erzählte ihnen von der Inschrift. "Was bedeutet Zeit für euch?", fragte er und blickte in die Runde. Einige sagten, Zeit sei das kostbarste Gut, das wir haben. Andere betonten, dass sich die besten Erinnerungen in den kleinsten Momenten verbergen: beim Lachen mit Freunden, oder beim Zusammensein mit der Familie. Die junge Molly meinte aufgeregt, dass Zeit nicht linear sei, sondern ein Zusammenspiel von Ereignissen, die uns formen würden.
Als die Diskussion weiterging, wurde ein gemeinsames Gefühl deutlich: Der Krug hatte sie alle dazu gebracht, über ihr eigenes Verständnis von Zeit nachzudenken. Vielleicht war der fliegende Krug nicht nur ein kurioses Phänomen, sondern ein Spiegel ihrer eigenen Lebensumstände. Eine Einladung, über ihre Perspektiven nachzudenken.
Und während sie redeten und lachten, begann der Krug plötzlich wieder zu schweben. Diesmal nicht allein! Die Dorfbewohner schlossen sich zusammen und bildeten mit ihren Händen eine Kette, als wollten sie den Flug des Kruges unterstützen. Gemeinsam schwebten sie mit dem Krug durch die Luft, wie eine unbeschwerte Kindheitserinnerung, die ihnen Freiheit versprach.
In diesem Moment erkannten sie das Wesen des Kruges. Es ging nicht darum, dass er fliegen konnte, sondern dass er die Menschen dazu brachte, über ihr Leben, ihre Beziehungen und ihre Erfahrungen nachzudenken. Sie waren nicht nur Bewohner von Zeithain, sondern ein Teil von etwas Größerem, das den Raum zwischen den Tagen, Stunden und Minuten überbrückte.
Der Krug setzte sich schließlich sanft wieder auf Wilhelmines Tisch, wo alles begonnen hatte. Die Dorfbewohner blickten auf ihn, dann aufeinander, und in ihren Herzen spürten sie eine Verbundenheit, die sie vorher nie gekannt hatten. Sie hatten etwas Wertvolles gewonnen: ein neues Verständnis für Zeit und die Kostbarkeit des Augenblicks.
Das kleine Dorf Zeithain sollte nie wieder dasselbe sein. Der fliegende Krug wurde zum Symbol der Veränderung und des Bewusstseins. Und während die Jahre vergingen, trafen sich die Menschen regelmäßig, um sich Geschichten zu erzählen. Geschichten vom Leben, von der Freiheit und von einem fliegenden Krug, der sie gelehrt hatte, die Zeit in all ihren Facetten zu schätzen. So wurde aus einem ungewöhnlichen Ereignis eine philosophische Reise, die nie enden sollte.
© "Der fliegende Krug von Zeithain. Eine phantastische Geschichte nicht von dieser Welt": Eine Kurzgeschichte von Izabel Comati, 03/2025. Bildnachweis: Alter Krug, CC0 (Public Domain Lizenz).
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