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Der englische Autor Algernon Blackwood besaß eine eindringliche Art, phantastische Geschichten zu erzählen. Ab 1906 verfasste er unzählige Kurzgeschichten, von denen erst einige nach seinem Tode (1951) veröffentlicht wurden, jedoch nicht alle in deutscher Sprache.
Die Herausgeber Michael Schmidt und Achim Hildebrand haben es sich zur Aufgabe gemacht, die klassischen Horrorgeschichten von Algernon Blackwood zu übersetzen und zu veröffentlichen. Ihr erster Sammelband "Aileen" erschien bereits Mitte 2018 und enthielt zehn Kurzgeschichten (weitere Informationen dazu siehe weiter unten).
Nun, im Dezember 2022, erschien der Nachfolgeband unter dem Titel "Traumpfade" mit weiteren 16 unheimlichen Geschichten. Daraus dürfen wir auszugsweise die Kurzgeschichte "Meeresrausch" veröffentlichen.
Wir wünschen gruseligen Spaß beim Lesen!
In dieser Nacht sang das Meer anstatt zu rauschen; entlang der ganzen langgestreckten Küste hinterließ die steigende Flut dicken weißen Schaum, und die weißbemützten Wellen rollten beständig im Rhythmus eines absichtsvollen Zwecks heran. Droben, an einem wolkenlosen Himmel, betrachtete der Vollmond, jene uralte Zauberin, ihren Tanz über die flachen Sandbänke und leitete sie behutsam heran. Denn durch das Mondlicht, durch das Brüllen der Brandung, drängte sich ein einzelner Ton voll Ernst und Bedeutung – fast so, als wären diese gewöhnlichen Vorgänge der Natur mit dem Aufwallen einer außergewöhnlichen Regsamkeit begabt, die kühn danach strebte, die Grenze zu einer subtilen Stufe bewussten Lebens zu überschreiten. Ein lichter Dunstvorhang lag über der Oberfläche des Meeres, weit draußen – ein durchsichtiger Teppich, durch den die Brecher in rhythmischer Bewegung zur Küste hin rollten.
In dem niedrigen Bungalow zwischen den Dünen saßen die drei Männer. Sie waren anlässlich der Ostertage zusammengekommen, verbrachten den Tag mit fischen und segeln, und die Nacht damit, sich Schwänke aus ihrer Jugend zu erzählen. Es war ein glücklicher Umstand, dass sie zu dritt – und später zu viert – waren, denn mit den Aussagen mehrerer Augenzeugen kann man auch eine außergewöhnliche Sache beweisen – wenn sie übereinstimmen. Und obwohl auf dem Tisch, der roh aus Planken gezimmert war, die man auf alte Fässer genagelt hatte, Whisky stand, wäre es kindisch, so zu tun, als könnten ein paar Drinks Beweise entkräften, denn bis zu einem gewissen Grad verstärkt Alkohol das Bewusstsein, konzentriert die intellektuellen Fähigkeiten und schärft die Wahrnehmung; und zwei gesunde Männer, erst recht drei, müssen schon eine aberwitzige Menge getrunken haben, bevor sie alle die gleichen Dinge sehen, oder nicht sehen.
Die anderen Ferienhäuser warteten noch auf ihre Sommergäste. Nur die von einsamen Büscheln bewachsenen Dünen blickten aufs Meer und schüttelten ihre Mähnen aus rauem Seegras im Wind. Die Männer hatten die ganze Nehrung für sich allein – mit dem Wind, der Gischt, dem wirbelnden Sand und dem großartigen Ostervollmond. Da waren Major Reese von der Artillerie und sein Halbbruder, Dr. Malcolm Reese, sowie Captain Erricson, ihr Gastgeber. Alles Männer, die das Kaleidoskop des Lebens vor einem Jahrzehnt in vielen Abenteuern zusammengewürfelt und dann für viele Jahre über den ganzen Globus zerstreut hatte. Dazu kam noch Erricsons Leibdiener 'Sinbad', ein hochseebefahrener Seemann, und jemand, der auf zahlreichen Schiffen die Lust an den seltsamen Abenteuern geteilt hatte, die seinen großartigen blonden Herrn berühmt gemacht hatten – ein perfekter Gehilfe und treu wie ein Hund, der die Wünsche und Launen seines Herrn, noch bevor sie geboren waren, vorausahnte. Im Augenblick war er, außer der Mannschaft des Fischkutters, auch Koch, Kammerdiener und Kellner im Rauchsalon des Bungalows.
'Big Erricson', norwegischer Abstammung und Adoptivstudent, hatte das Wandern im Blut und war die Wiedergeburt eines Wikingers, wenn es je eine solche gegeben hat. Er gehörte zu jener primitiven Sorte Männer, in denen eine angeborene Liebe und Leidenschaft für die See brennt, welche einer regelrechten Verehrung gleichkommt, einer sinnlichen Begierde und einem Seelenfieber.
"Alle wahren Verehrer der alten Meeresgötter sind so", sagte er gewöhnlich, um seine Gleichgültigkeit gegenüber weltlichem Streben zu erklären. "Ohne Salzwasser fühlen wir uns niemals wohl, niemals ganz in Ordnung. Mir selbst pulst es im Herzen. Ich würde eher ein wenig vor dem Mast schuften, als eine Million an Land zu machen. Ich kann einfach nicht anders, weißt du, und konnte es niemals. Es sind unsere Götter, die unsere Verehrung fordern." Und er hatte auch nie versucht, es zu ändern, was erklärt, warum er auf der Welt nichts an Land besaß, als diesen baufälligen, einstöckigen Bungalow – der mehr einer Schiffskabine glich als irgendetwas anderem – in den er hin und wieder seine treuesten und tapfersten Freunde einlud. Dazu einen Vorrat von seltsamem Lesestoff, an langen stillen Tagen an den Enden der Welt gesammelt. Das heißt, sein Herz und Geist trugen eine sonderbare Fracht.
"Tut mir leid, wenn ihr armen Kerle euch hier drin unkomfortabel fühlt. Denkt dran, ihr müsst Sinbad fragen, wenn ihr etwas wünscht, was ihr nicht seht." Als ob Sinbad für Bequemlichkeiten hätte sorgen können, die meilenweit entfernt waren – oder ein zugiges Wrack in ein brandneues, behagliches, Schiff verwandeln. ...
Unsere Empfehlung: "Traumpfade" ist als Taschenbuch, gebundene Ausgabe sowie als E-Book erhältlich. Das Spektrum der sechzehn Erzählungen reicht von solidem Horror, über subtiles Grauen, bis hin zur Rebellion ungelesener Bücher.
Lesetipp II: Den ersten Sammelband "Aileen und weitere unheimliche Geschichten" gibt es noch als Taschenbuch- und E-Book-Ausgabe im Handel. Algernon Blackwood hatte eine starke Neigung zu allem Esoterischen, und gab an, selbst Geistererscheinungen gesehen zu haben, die er in vielen seiner Geschichten verarbeitete.
Auf dem Blog des Herausgebers Michael Schmidt findet ihr eine Fülle an Informationen zu sämtlichen Zwielicht-Buchausgaben sowie Veröffentlichungen zu den Genres Horror und unheimliche Phantastik.
Traumpfade / Dream Trespass (1911)
Smiths Untergang / The Destruction of Smith (1912)
Der Mann von den Göttern / The Man from the Gods (1910)
Skeleton Lake (1906)
Initiation (1917)
Wem der Hut passt / If the Cap fits (1914)
Eine ägyptische Romanze / Egyptian Sorcery (1921)
Die Exzentrität des Simon Parnacute / The Eccentricity of Simon Parnacute (1910)
Meeresrausch / The Sea Fit (1912)
Reisende / Wayfarers (1914)
H.S.H. (1917)
Das weiße Pferd / The Tradition (1917)
Die Flüsterer / The Whisperes (1912)
S.O.S. (1918)
Eine Episode in der Wüste / A Desert Episode (1917)
Die goldene Fliege / The golden fly (1912)
Das Titelbild gestaltete der Illustrator Björn Ian Craig.
Lest mehr Horror und Phantastik: Zwielicht II: Feuerhaut | Zwielicht III: Das Tal der Tiere | Zwielicht XI: Unheimliches von Carl Denning
© Buchvorstellung zum Horror-Sonderband "Traumpfade": Für die Textauswahl und die Abbildung danken wir den Herausgebern Michael Schmidt und Achim Hildebrand, 02/2023.
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