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Die 15. Ausgabe der beliebten Horror-Anthologie "Zwielicht Classic" liegt seit November 2019 vor. Der Herausgeber Michael Schmidt hat neun Erzählungen sowie drei Textbeiträge zu einem spannenden Buch zusammengefasst, die gruselige, aber auch lustige und philosophische Geschichten und Gedanken enthalten. Wie auch bei den Bänden 1 bis 14 sind herausragende Stories und vergessene Perlen enthalten. Für die Leser wird es auf keinen Fall langweilig.
Von der Autorin und Lektorin Nadine Muriel (ihr Debütroman "Die Gefährtin" erschien 2011), die sich neben dem Genre Horror auch der Phantastik sowie Märchen verschrieben hat, dürfen wir eine Leseprobe aus ihrer Steampunk-Erzählung "Dampfherz" präsentieren. Die Geschichte handelt von Breda, die als Pflegerin in einer Nervenklinik arbeitet und in der mysteriösen "Sektion V" eine grausige Entdeckung macht.
Die Horror-Anthologie "Zwielicht Classic 15" wurde als Taschenbuch (212 Seiten, ISBN 978-1708069476) sowie als E-Book aufgelegt, die man im Online-Buchhandel erwerben kann.
Paul schüttelt sich, als donnere die Druckwelle einer Granate auf ihn ein, während ich ihn in den Rollstuhl hieve. Die Drähte und Schläuche, die aus seinem Oberarmstumpf ragen, verheddern sich in seinem Anstaltskittel. Ich löse sie und schiebe den Kriegszitterer durch weißgekachelte Gänge, vorbei an Massenschlafsälen, den Räumen für Dauerbäder, Isolationstherapie und Hydraulikbehandlungen, der Küche. Von irgendwo ertönt Kreischen.
An der Tür zur Sondersektion V verlangsame ich unwillkürlich meine Schritte. Ich wüsste zu gerne, was in diesem Bereich geschieht, den zu betreten man uns strikt untersagt hat. Gleichzeitig frage ich mich, woher diese unbezwingbare Neugierde kommt. "Du zeigst ein so außergewöhnliches Interesse an deiner Umgebung, weil du ein gutes Herz hast. Nur deswegen hast du dich ja entschieden, trotz deines schlimmen Schicksals in der Nerven-heilanstalt zu arbeiten, wo du anderen helfen kannst, denen es noch schlechter ergangen ist als dir", hatte die Erklärung meiner Zimmerwirtin Kläre gelautet, als ich ihr kürzlich bei einer Tasse heißer Trinkschokolade – aus echten Kakaobohnen, wie Kläre betonte – von meiner merkwürdigen Faszination erzählte.
Wieder mal hatte es mich gewundert, mit welcher Geduld Kläre sich mein Geschwafel anhörte. Irgendwie schafft sie es mit ihrer warmherzigen Art stets aufs Neue, dass alles aus mir heraussprudelt, was ich den Tag über erlebt oder gedacht hatte. Und das, obwohl ich unter meinen Kolleginnen keineswegs als redselig gelte.
Als ich merke, dass Paul noch heftiger zittert als zuvor, eile ich weiter. Eine Schreckneurose könne sich leicht zur manischen Tobsucht ausweiten, hat Doktor Schubert erläutert. Darum seien Schocktherapien erfahrenen Ärzten vorbehalten, wohingegen wir Pflegerinnen uns bemühen sollen, jegliche Erregung der Patienten zu vermeiden.
Im Vordertrakt der Klinik wartet bereits Pauls Gattin, um ihn wie jeden Sonntagnachmittag zu besuchen. Ein Lächeln verzerrt Pauls Gesicht, als er die Frau erblickt, die zu Boden schaut und nervös einen Strohhut in ihren Händen dreht.
Wie so oft frage ich mich, wie es wohl für all die Angehörigen sein mag, hier in der Nervenheilanstalt Hubertusstift verstörte, hilflose Kreaturen zu besuchen, die gleichzeitig immer noch ihre geliebten Männer, Väter oder Söhne sind.
Als habe sie meine Gedanken gelesen, raunt Martha, eine Pflegerin, die gerade den Melancholiker Otto gebracht hat, mir zu: "Manchmal glaube ich, wir beide können uns sogar glücklich schätzen."
Ihre Augen schimmern feucht, während sie verstohlen auf eine Blondine deutet, die mit Otto spricht, dabei aber seinem Blick ausweicht und sichtlich bemüht ist, jede Berührung zu vermeiden.
"Wahrscheinlich." Etwas Besseres fällt mir nicht ein. Ich kann erahnen, welcher Sturm an Gefühlen Martha durchtost. Aber die Verschwesterungsversuche der jungen Kriegswitwe sind mir unangenehm, genauso wie das demonstrative Mitleid anderer Kolleginnen, deren Männer noch leben. Ich weiß nie, wie ich darauf reagieren soll. Vermutlich sollte ich Kummer zeigen, doch ich empfinde keinen Schmerz.
Obschon es kaum drei Jahre her ist, dass mich die Dampfdrohne mit der Nachricht über Gustavs Tod erreichte, ist er für mich nicht mehr als eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die auf einem Klavier steht, an dem ich versuche, den Veilchenwalzer zu spielen. Hilflos murmele ich ein paar Floskeln über schöne Erinnerungen, die den Kummer überdauern, und wende mich ab. Ich hoffe, dass meine betrübte Miene überzeugend wirkte. Im Gegensatz zu Kläre dürfen meine Kolleginnen mein Anderssein nie bemerken, sonst würden sie mich gewiss sofort in die Frauenabteilung einweisen lassen.
Ein Umweg führt mich wieder zur Sondersektion V, doch auch diesmal gibt es außer der Milchglastür nichts zu sehen. Warum nur zieht dieser Ort mich an wie ein Magnet einen Eisenspan?
Als ich etwas später auf dem Weg zur Abteilung für chronisch Imbezile erneut den Vordertrakt passiere, tritt mir Pauls Gattin in den Weg, die Hände in die Hüften gestützt.
"Wieso musste bei meinem Mann ein Arm amputiert werden?" Ihre Augen funkeln angriffslustig. "Als ich ihn zuletzt besuchte, war er körperlich vollkommen gesund."
"Es gibt andere Verletzungen als offene Wunden, die einen Körper zerstören können", wiederhole ich Doktor Schuberts Ausführungen. Und dabei meine ich keineswegs das im Krieg häufig eingesetzte Giftgas, das die inneren Organe zersetzt. Ich sehe in Gedanken Otto, der ein Fenster eingeschlagen und versucht hat, sich mit einer Scherbe die Hand abzusäbeln – aus Zorn darüber, dass sie das Bajonett führte, mit dem er, der überzeugte Pazifist, tötete und verstümmelte. An Wilhelm, der sich kurz vor seiner Entlassung beide Unterschenkel zu zertrümmern versuchte, um nicht zurück an die Front zu müssen. Der Krieg macht Menschen nicht zu Helden, sondern zu Krüppeln, deren Leiber und Gemüter unwiderruflich zerstört sind.
"Paul sprach über einen Kampf gegen einen Mann mit Messerhänden." Sie schaut sich misstrauisch um, als erwarte sie, dass hier tatsächlich ein derartiges Monstrum lauert. Oder späht sie nach Anzeichen, dass unsere Patienten im Hubertusstift vernachlässigt werden?
"Fast alle seelisch Kranken leiden unter halluzinatorischen Wahnvorstellungen", erkläre ich. Pauls Gattin tut mir leid. Auch ich hätte bestimmt gekämpft wie eine Löwin, um Gustav zu retten. Ich bin sicher, dass ich ihn sehr geliebt habe. Zumindest deuten die nebelartigen Fragmente in meinem Geist darauf hin: Das Klavier, an dem ich stundenlang sitze, ohne zu spielen, weil der reißende Schmerz mir die Arme lähmt. Ein Bett, auf dem ich liege, die Hände auf die Brust gepresst, während sich eine Frau mit flammendrotem Haar über mich beugt. Seltsamerweise hat sie kein Gesicht – nicht, weil ihr Antlitz entstellt ist; vielmehr erweckt es den Anschein, als habe man ihr Gesicht ausradiert, wie man es bei einer misslungenen Zeichnung tut.
Das Tanzlokal, Girlanden, Lampions, künstliche Palmen, ich in den Armen eines Fremden auf der Tanzfläche – und dann der unerträgliche Herzschmerz, sobald aus dem Dampfgrammophon der Veilchenwalzer ertönt, mein Aufschrei, der Boden, der auf mich zurast.
Gern würde ich Pauls Gattin etwas Tröstendes sagen, doch wie so oft fehlen mir die Worte. Ich bin wie versteinert.
"Ihr Mann erhielt in der Sondersektion V die bestmögliche Behandlung, um sein körperliches Leiden zu mindern. Es ist unser aller Bestreben, dass auch seine Seele bald gesundet", murmele ich schließlich, ehe ich davonhusche. ...
Mehr Phantastische Literatur lesen: "Zwielicht 13": Der Mönch und die Pest | Fantasyguide-Anthologie "Schiff der Spione"
© Für die Leseprobe "Dampfherz", Steampunk von Nadine Muriel, sowie die Verwendung der Buchcover-Abbildung danken wir dem Herausgeber Michael Schmidt herzlich, 03/2020. Das Titelbild entstammt der Feder von Oliver Pflug. Die Illustration zur Erzählung "Gewächse in Sebsprawl-U" ist von Gaby Hylla.
"Zwielicht Classic 15" – Beteiligte AutorInnen und ihre Geschichten:
Nadine Muriel – Dampfherz (2018)
Max P. Becker – Trauerzeit (2017)
Silke Brandt – Schwarzer Schnee in Norilsk (2012)
Karin Reddemann – Böser Mann (2016)
Michael Schmidt – Paulas neuer Freund (2016)
Andreas Flögel – Gewächse in Sebsprawl-U (2011)
Gustav Meyrink – Meister Leonhard (1916)
Friedrich Glauser – Der alte Zauberer (1933)
Willy Seidel – Das älteste Ding der Welt (1923)
Textbeiträge in "Zwielicht Classic 15":
Niels-Gerrit Horz – Zimmer Frei! (2017)
Niels-Gerrit Horz – Wie erfuhr August Derleth von HPLs Tod? (2017)
Karin Reddemann – Die dunkle Muse (2018)
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