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Harry wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er die steilen Stufen zum Kloster hinaufstieg. Die tibetische Sonne brannte erbarmungslos auf seinen westlichen Anzug herab, den er trotz der Hitze trug, schließlich war er Geschäftsmann durch und durch. In seiner Aktentasche befanden sich die Kataloge seiner neuesten Billardtisch-Kollektion, speziell ausgewählt für diesen besonderen Kunden: Seine Heiligkeit, den 14. Dalai Lama. (Read this in English)
Schon vor Wochen hatte Harry von seinem Kontakt in Dharamsala, einem lokalen Teehändler, gehört, dass das spirituelle Oberhaupt der Tibeter ein begeisterter Billardspieler sei. Diese Information war für Harry wie ein Geschenk des Himmels. Als Inhaber von "Harrys Billards" hatte er schon an die unterschiedlichsten Kunden verkauft – von Nachtclubbesitzern bis zu arabischen Scheichs. Aber der Dalai Lama wäre der Coup seines Lebens.
"Namaste", grüßte er einen jungen Mönch am Eingang des Klosters. Der Mönch lächelte freundlich und erwiderte die Begrüßung, während er Harry in einen schlicht eingerichteten Warteraum führte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich die Tür, und ein älterer Mönch bat Harry einzutreten. Der Raum, in den er geführt wurde, war überraschend bescheiden. Sonnenlicht fiel durch große Fenster herein und beleuchtete die wenigen Möbelstücke: ein paar Kissen auf dem Boden, ein niedriger Tisch und – zu Harrys Überraschung – tatsächlich ein alter Billardtisch in der Ecke.
Der Dalai Lama saß mit überkreuzten Beinen auf einem erhöhten Kissen, umgeben von einigen seiner engsten Vertrauten, und begrüßte Harry mit einem warmen Lächeln. "Willkommen, lieber Harry. Ich habe gehört, Sie sind einen weiten Weg gereist, um mich zu sehen?"
Harry verbeugte sich tief und setzte sich auf das ihm angebotene Kissen. "Eure Heiligkeit, ich fühle mich geehrt, hier sein zu dürfen. Ich habe gehört, Sie interessieren sich für Billard?"
Der Dalai Lama lachte herzlich. "Ah, Sie haben von meinem alten Freund dort drüben gehört?" Er deutete auf den Billardtisch. "Er wurde mir vor vielen Jahren von einem britischen Diplomaten geschenkt."
Harrys Augen leuchteten auf. "Dann darf ich Ihnen vielleicht unsere neueste Kollektion vorstellen? Wir haben Tische mit handgeschnitzten Beinen aus tibetischer Eiche, Schieferplatten aus den besten Steinbrüchen..."
Der Dalai Lama hob sanft die Hand. "Lieber Harry, lassen Sie uns einen Moment innehalten. – Warum, glauben Sie, spielt ein Mensch Billard?"
Die Frage traf Harry unvorbereitet. "Nun, zur Unterhaltung natürlich. Zur Entspannung. Zum Zeitvertreib."
"Zeitvertreib", wiederholte der Dalai Lama nachdenklich. "Ein interessantes Wort. Zeit vertreiben. – Als ob Zeit etwas wäre, das man vertreiben müsste, wie einen ungebetenen Gast."
Harry rutschte unbehaglich auf seinem Kissen hin und her. So hatte er das noch nie betrachtet.
Der Dalai Lama lächelte milde und schüttelte den Kopf. "Billard, mein Freund, ist ein Spiel. Und Spiele können uns oft von dem ablenken, was im Leben wirklich wichtig ist. Warum glauben Sie, dass ich einen Billardtisch brauche?"
Harry war perplex. Er hatte nie darüber nachgedacht, dass Billard möglicherweise die Menschen von ihren inneren Werten ablenken könnte. Doch er war ein gewiefter Geschäftsmann und wollte sich nicht so leicht geschlagen geben. "Aber Eure Heiligkeit", entgegnete er, "Billard kann auch eine Möglichkeit sein, Gemeinschaft und Freundschaft zu fördern. Es hilft, Menschen zusammenzubringen."
Der Dalai Lama nickte verständnisvoll. "Ja, Gemeinschaft ist wichtig, aber es gibt viele Wege, sie miteinander zu leben. Es gibt Mediation, Gespräche, gemeinsames Kochen, sogar gemeinsames Schweigen. – Wo liegt der Wert in einem Spiel, das uns auf einen Tisch reduziert, wenn das Leben so viel mehr zu bieten hat? – Sehen Sie, lieber Harry, in der buddhistischen Lehre streben wir nach Achtsamkeit, nach vollem Bewusstsein im gegenwärtigen Moment. Wenn wir spielen, um uns die Zeit zu vertreiben, fliehen wir dann nicht vor dem Jetzt?"
"Aber", wandte Harry ein, "Billard ist doch auch ein Sport der Konzentration, der Präzision..."
"Gewiss", nickte der Dalai Lama. "Aber oft wird daraus eine Flucht. Die Menschen verlieren sich im Spiel, statt zu sich selbst zu finden. Sie werden abhängig von der kurzen Freude eines gelungenen Stoßes, anstatt wahre innere Zufriedenheit zu kultivieren."
Harry, nun etwas frustriert, blickte auf seine Kataloge hinunter. Seine perfekt vorbereitete Verkaufspräsentation schien nun bedeutungslos.
Der Dalai Lama stand auf und ging zu dem alten Billardtisch hinüber. "Wissen Sie, warum ich diesen Tisch behalten habe? – Nicht zum Spielen! Er erinnert mich daran, wie leicht wir uns in weltlichen Vergnügungen verlieren können. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, denke ich daran, wie viele Menschen ihr Leben damit verbringen, einem Ball hinterherzujagen. Sei es beim Billard oder im übertragenen Sinne."
Harry fühlte sich zunehmend unwohl. Seine Geschäftsidee erschien ihm mit einem Mal geradezu absurd.
Doch dann fiel ihm etwas auf. "Eure Heiligkeit, ich sehe, die Farbe des alten Tuches ist bereits verblasst."
Der Dalai Lama betrachtete das vergilbte Billardtuch. "Ja, zu viel Sonne hinterlässt ihre Spuren."
"Wissen Sie", sagte Harry vorsichtig, "wir haben da ein besonders hochwertiges Tuch. Es ist aus feinster Merinowolle, sehr strapazierfähig und..." Er hielt inne und lächelte. "Eigentlich würde es ein wunderbares Gewand abgeben."
Der Dalai Lama hob interessiert eine Augenbraue. "Ein Gewand?"
"Ja", sagte Harry und zog ein Stoffmuster aus seiner Tasche. "Dieses Tuch ist perfekt für ein Mönchsgewand. Der Stoff ist atmungsaktiv und sehr strapazierfähig. Und es gibt ihn in vielen Farben."
Zum ersten Mal während des Gesprächs leuchteten die Augen des Dalai Lama auf. Er nahm das Stoffmuster in die Hand, ließ es durch seine Finger gleiten und fühlte die glatte Textur. "In der Tat, das ist bemerkenswert!", sagte er. "Es könnte wirklich ein schönes Gewand abgeben, das sowohl die Einfachheit als auch die Schönheit verkörpert, nach der wir im Leben streben. Sind denn die Farben safranrot, goldgelb, blau und grün lieferbar?"
"Natürlich, ja!", versicherte Harry und nickte zur Bestätigung.
Nach reiflicher Überlegung entschloss sich der Dalai Lama, das Tuch zu kaufen. Nicht für einen Tisch, sondern für neue Gewänder. "Das ist eine wunderbare Idee und ich danke Ihnen sehr dafür, Harry."
Eine Stunde später verließ Harry das Kloster mit einer großen Bestellung von vielen Metern Tuch. Mit einem breiten Lächeln stieg Harry die Stufen des Klosters hinab. Er hatte zwar keinen Billardtisch verkauft, aber etwas viel Wertvolleres gewonnen: eine Lektion in Weisheit und die Einsichten eines Mannes, der die Welt auf eine ganz andere Weise betrachtete. Harry hatte das Gefühl, dass das Gespräch mit dem Dalai Lama auch eine Lektion über das Leben und seine wahren Werte war.
Einige Monate später erhielt Harry ein Foto aus Dharamsala. Es zeigte den Dalai Lama in einem wunderschönen, farbenfrohen Gewand, mit seinem charakteristischen Lächeln. Auf der Rückseite stand in fein säuberlicher Handschrift geschrieben: "Manchmal findet man Erleuchtung an den unerwartetsten Orten, sogar an einem Billardtisch."
Harry rahmte das Foto ein und hängte es in seinem Büro auf. Es erinnerte ihn daran, dass der beste Verkauf nicht immer der ist, den man geplant hat, und dass wahre Weisheit oft darin besteht, seine ursprünglichen Absichten loszulassen.
In den folgenden Jahren erzählte Harry diese Geschichte oft, wenn er in seiner Billard-Ausstellung war. Manchmal, wenn ein Kunde zu enthusiastisch über die Bedeutung des Spiels sprach, erinnerte Harry sich an die Worte des Dalai Lama und fragte sanft: "Warum möchten Sie eigentlich einen Billardtisch?"
Der alte Billardtisch steht noch heute im Kloster, sein vergilbtes Tuch ist stummer Zeuge dieser besonderen Begegnung. Und wenn Besucher fragen, warum der Dalai Lama einen Billardtisch besitzt, erzählen die Mönche lächelnd die Geschichte vom Billardhändler, der kam, um zu verkaufen, und ging, um zu lernen.
© "Der Dalai Lama und der Billardtisch: Wo liegt der Wert in einem Spiel, wenn das Leben so viel mehr zu bieten hat?". Eine Kurzgeschichte von Izabel Comati, 12/2024. Die Abbildung zeigt den 14. Dalai Lama (Urheberin: janeb13 über Pixabay), CC0 (Public Domain Lizenz).
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