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Die Autorin Jeannette Oertel hat mit "Der wunde Himmel" eine explosive, atemberaubende Geschichte mit Erotik, Agenten und Krimielementen geschrieben, die über das politisch Bedrohliche von heute und aus der Vergangenheit in der DDR erzählt.
Zwischen der Assistentin des Botschafters der fiktiven Arabischen Republik Elydien und einem Diplomaten entwickelt sich eine Amour fou, es spielt in naher Zukunft in Berlin, in Zeiten aufgeheizter Aufruhrstimmung. Die Leidenschaft der beiden wird zur Obsession. Zugleich passieren immer mehr mysteriöse Dinge in der Botschaft, die die Protagonistin auch bis in ihre Kindheit in der DDR zurückführen. Die Liebe schwankt zwischen totaler Hingabe und Verrat in einer zerfallenden politischen Umgebung, in die verschiedene Geheimdienste und die Hand der ehemaligen Stasi immer stärker mit hineinspielen. Die Autorin Jeannette Oertel hat selbst eine Zeitlang im Diplomatischen Dienst gearbeitet.
Der Spannungsroman "Der wunde Himmel", der reichlich Krimi- und Politthriller-Elemente enthält, wurde im Februar 2020 beim konkursbuch Verlag Claudia Gehrke veröffentlicht. Neben dem Taschenbuch (510 Seiten, ISBN 978-3887694753) wurde der Roman von Jeannette Oertel auch als E-Book herausgegeben.
Auch hier liefen Filme, einer an jeder Wand. Links von mir fielen Bomben auf brennende Städte. Rechts von mir schimpfte Mussolini. Daneben tanzte Walt Disney. Ich wandte mich um. Stalin lachte mir ins Gesicht wie über einen besonders gelungenen Witz. Dazwischen, in willkürlich durch den Raum verteilten Sitzgruppen, lümmelten Männer in dunklen Hosen mit weiten Beinen und doppelreihigen dunklen Jacken in Ohrensesseln und spielten Karten.
War das hier eine Zeitreise durch das letzte Jahrhundert? Was taten all diese Menschen in dieser sonderbaren Bar?
Ich ließ mich in einen der Sessel fallen – die Männer lenkten ihre Aufmerksamkeit auf mich.
"Wir drehen hier die Zeit zurück", erklärte mir ein Älterer mit schwarzem Bart. "Um die Vergangenheit endlich gut werden zu lassen."
Ein untersetzter Alter mit runder Metallbrille korrigierte ihn. "Nicht die Vergangenheit, die Geschichte."
Offensichtlich standen mir meine Fragen ins Gesicht geschrieben, denn ein anderer mit schwarzem Filzhut fügte hinzu: "Wir befinden uns in den vierziger Jahren. Wir haben viel zu lernen. Diesmal muss es einer rechtzeitig bemerken."
"Was rechtzeitig bemerken?", fragte ich ihn irritiert.
"Den großen Zusammenbruch", erwiderte er.
"Haben Sie Mut!", proklamierte der Bärtige. Ich fragte nicht weiter, sondern stemmte mich hoch und verließ die Männerrunde, kopfschüttelnd und doch eigenartig getrieben von ihren Worten.
Durch einen Vorhang, auf dem Marlene Dietrich ihren Zylinder lüftete, huschte ich in einen weiteren Raum. An seiner Decke baumelten Lüster wie aus Feenstaub. Sie warfen zittriges Licht auf Hitlers Machtübernahme, die zu Glen Millers In the Mood über die Leinwand flimmerte. In einer raffinierten Video-Installation schritt Al Capone durch das Zimmer. Bonnie und Clyde überfielen eine Bank. Ein Polizist brach unter Schüssen zusammen.
Am Ende des Raums swingte völlig ausgelassen eine schwarz-weiß gekleidete Menschenmenge. Jeder lachte seinen Tanzpartner an, als würde an diesem wahnsinnigen Ort nichts anderes existieren. Eine Rolltreppe teilte die Tanzenden, und ich stieg darauf, Gänsehaut am ganzen Körper. Es war, als würde ich durch einen Schwarz-Weiß-Film treiben. Die Rolltreppe fuhr nach oben, sie trug mich aus dem Schwarz-Weiß-Film heraus zu einer Tür, die mit psychedelischen Farbkreiseln bemalt war.
Twenties, stand daran geschrieben. Ehe ich den Türknauf drehen konnte, öffnete mir ein Mann im Smoking und winkte mich herein.
"Ich wusste, dass Sie kommen", sagte er. "Machen Sie was daraus!" Mit theatralischer Verneigung wies er mir den Weg in eine goldene Lounge. Überall im Raum verteilt lagen Berge goldener Kissen, auf denen Menschen aneinandergeschmiegt lagen oder saßen. Nur der künstliche Sternenhimmel an der Decke spendete Licht, ein scheues, verhuschtes, zwielichtiges. Alles schwamm darin, wie Dinge nur in Träumen schwammen.
"Das war Der große Gatsby", gluckste eine Frau mit Pagenschnitt in gelben Haremshosen neben mir. Zu wem sprach sie? Wen meinte sie? Den Mann, der mir die Tür geöffnet hatte? Den Film? Die Figur aus dem Buch? Ich wollte sie fragen, als eine andere Frau mit kupferfarbenem Bubikopf eine Schwarzhaarige im roten Charleston-Kleid küsste und so meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Frauen in Marlene-Hosen stießen miteinander an. Männer in Fracks und weißen Fliegen.
Und was war das für ein Geruch? Nach Holz?
Ein Transvestit in einem bunt schillernden Paillettenkleid wandte sich mir zu. "Du wartest auf dein Leben, statt es zu leben", orakelte er.
Dann rauschte um uns der Börsenkrach in sich überschlagenden Zeitungsmeldungen über alle Wände gleichzeitig. Alle huschten davon, als wollten sie sich davor retten. Sie gaben den Blick auf eine leere Bühne frei, die mir erschien, als würde sie auf etwas warten. Auf was?
Ich kuschelte mich auf ein winziges weißes Samtsofa neben der Bühne, streichelte seinen Stoff wie das Fell eines schönen Tieres. Diese Bar war Magie, die Washingtons Licht ausschaltete, den Verstand ad absurdum führen wollte. Unter all den Zwanziger-Jahre-Menschen fühlte ich mich in meinem weißen Lederkleid wie eine Einbrecherin aus der Zukunft. Ich schmiegte meine Wange an die Sofalehne.
"Raub dir dein Leben!", murmelte mir jemand ins Ohr. Ich zuckte zusammen, sah auf. Die Frau, der die Stimme gehörte, sah aus wie Anita Berber – die skandalumwitterte Nackttänzerin im Berlin der zwanziger Jahre. Hier. Mitten in Washington.
"Seltsam, nicht?", flüsterte sie. "Dass wir Menschen immer erst zu spät hinsehen. Und zu spät begreifen."
"Was zu spät begreifen?", fragte ich.
"Den großen Diktator. Goldene Jahre wie diese machen blind."
"Was meinst du damit?"
"Sieh doch selbst. Sieh genau hin." ...
© "Der wunde Himmel": Herzlichen Dank der Autorin Jeannette Oertel sowie dem konkursbuch Verlag Claudia Gehrke für diesen Textauszug und die Abbildung des Buchcovers, 05/2020.
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