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Ich will Euch, Wanderer, die Geschichte so erzählen, wie sie wirklich gewesen ist, auch wenn das eigentlich niemand hören will. Meine Kindheit verbrachte ich auf dem Hof meines Vaters, der ein hart arbeitender Bauer war. Aber hart war auch sonst ein Wort, das zu ihm passte, denn er duldete weder Krankheit noch Schwäche in seiner Umgebung. Knechte, die "nachließen", wie er das nannte, schickte er fort. Fehlte einer zu lange auf dem Feld, brauchte er nicht mehr wiederzukommen. Und mit dem Vieh verfuhr er kaum anders.
Ich erinnere mich an meine Mutter als eine warmherzige Frau, die vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang schuftete, ohne je ein freundliches Wort von ihrem Ehemann zu hören. Jedenfalls habe ich nie etwas dergleichen gehört. Als mein Bruder geboren wurde, blieb sie nicht liegen, wie sie es hätte tun sollen nach der Weisung der alten Hebamme, sondern ging einen Tag später aufs Feld. Die Geburt war in die Erntezeit gefallen, und Vater brauchte jede Hand. Ich war nicht älter als acht Sommer, und weiß noch, wie man sie hereintrug, eine totenbleiche und reglose Frau. Ich durfte nicht in die Kammer zu ihr, und am Abend war sie tot. Der Kleine starb ihr nach, er war schwach und konnte keine Nahrung zu sich nehmen. Heute weiß ich, dass meine Mutter bis zur Niederkunft rackerte, ohne sich eine Pause zu gönnen, und dass mein Vater das nicht verhinderte. Wahrscheinlich kam es ihm einfach nicht in den Sinn, denn er selber gönnte sich niemals Ruhe, und Mutter hatte nie geklagt.
Auch ich arbeitete hart, obwohl der Hofherr etwas nachsichtiger war mit mir. Stillsitzen lag mir aber damals ebenso wenig wie heute, und ich war flink und anstellig. Besonders die Tiere hatten es mir angetan, und ich kannte viele von ihnen mit Namen. War ein Hund zu alt, um seine Arbeit zu tun, zeigte sich die ganze Härte meines Vaters ... er hieß einen Knecht das Tier erschlagen. So manche Stunde verbrachte ich weinend in irgendeinem Winkel draußen, weil ich weggelaufen war, nachdem ich vergeblich um das Leben eines solch treuen Tieres gebettelt hatte. Für mich, die ich mit jeder Kuh, die ich molk, Freundschaft geschlossen hatte und sogar das Federvieh gut kannte, war das Schlachten immer etwas Grauenvolles.
Und dann geschah etwas, das alles verändern sollte. Eine Kuh hatte Schwierigkeiten beim Kalben und man holte mich mitten in der Nacht von meinem Lager. Obwohl ich erst fünfzehn Sommer zählte, hatte ich eine gute Hand, wenn es um das Pflegen und Heilen oder auch um so etwas ging. Und mir gelang, was wahrscheinlich keinem anderen gelungen wäre – ich rettete die Kuh und das Kalb. Ein kleiner Stier war es, wunderschön anzusehen und von ganz heller Farbe. In den nächsten Wochen erwies sich der kleine Stier als etwas ganz Besonderes, denn er war den Menschen sehr zugetan. Das verwunderte alle, und viele unserer Leute betrachteten und bewunderten ihn. Vater störte es sonderbarerweise nicht, selbst er verbrachte hier und da etwas Zeit bei dem Kalb. Mir schloss sich das schöne Geschöpf besonders an, er gewöhnte sich an, mir auf Schritt und Tritt zu folgen. Er wuchs schnell und war so schön und wohlgestaltet, dass er sogar unter den Herden der Götter nicht aufgefallen wäre. Seine helle Farbe und das wunderbare Ebenmaß seiner Glieder waren ebenso beeindruckend wie seine Freundlichkeit. Ich glaubte nichts anderes, als dass mein Vater ihn als Zuchtstier verwenden wollte, denn dafür schien er geboren zu sein.
Mich neckte man zuweilen wegen meinem starken und ständigen Begleiter, aber das machte mir nichts aus, denn ich wusste, dass keine Bosheit dahintersteckte. Aber dann erfuhr ich von einem Knecht, der mich gut leiden mochte, dass mein Vater andere Pläne mit dem Stier hatte. Man hatte viel Gold geboten vom Tempel aus, um den schönen Hellen als Opferstier zu kaufen. Und Vater hatte eingeschlagen – er würde meinen Freund bald zu den Priestern bringen. Mir war, als öffne sich die Erde und ich fiele in ein dunkles Loch – tonlos dankte ich dem Knecht und rannte zur Weide, wo man meinen Freund angepflockt hatte, damit er mir nicht jede Stunde des Tages hinterherlief.
Im Licht der sinkenden Sonne stand er da, stark und herrlich und mit freudigem Brüllen, als er mich erkannte. Und da wusste ich, was zu tun war. Nie hatte ich ein Geschöpf retten können, das mir am Herzen gelegen hatte – aber dieses Mal würde es anders sein. Und so packte ich mein Bündel und schlich mich kurz nach dem Sonnenuntergang aus dem Haus und hinaus zur Weide. Ich löste den Strick und wir beide verließen den Hof und das Land meines Vaters.
Ich hatte nicht geglaubt, dass wir sehr weit kommen würden, aber ich hatte meinen Freund unterschätzt. Unermüdlich lief er, trug mich sogar auf dem Rücken, was ich ihm im Spiel angewöhnt hatte. Wir durchquerten zwei Flussläufe und kamen gut voran. Hinter uns tobte ein Unwetter – eines, das mir nicht natürlich schien und das ich den guten Göttern, die mit uns waren, zuschrieb. Keine Kraft, ob sie nun auf der Erde oder im Himmel wohnte, konnte den sinnlosen Tod eines solch herrlichen Geschöpfes wollen – so kam es, dass die Knechte meines Vaters uns nicht einholten.
Der Rest ist schnell erzählt: Ich fand gute Menschen, die mich freundlich aufnahmen in ihrer Mitte. Ein guter Mann hielt um mich an, ich willigte ein und wir zogen miteinander fort. Der wunderschöne Stier wurde zum Begründer einer großen und gesunden Herde, die er heute noch leitet und beschützt. Manchmal brachten Wanderer Kunde vom weit entfernten Hof meines Vaters. Es scheint, als habe er, um sein Gesicht zu wahren, eine ziemlich verrückte Geschichte erzählt. Die Menschen glauben, was sie glauben wollen, und wenn ihnen der Gedanke gefällt, dass ein Gott in Stiergestalt die junge Europa vom Hofe ihres Vaters entführt habe, dann werde ich ihnen nicht widersprechen.
© Erzählung "Das Mädchen und der Opferstier" Winfried Brumma (Pressenet), 2010. Die Abbildung zeigt "Europa auf dem Stier", ein Fresko aus Pompeji aus dem 1. Jahrhundert (Quelle: Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei).
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